Das Gurnigelbad auf einer Postkarte von 1907.
Das Gurnigelbad auf einer Postkarte von 1907. ETH Bibliothek Zürich

Unterhal­ten­de Kuren

Gurnigelbad war bis ins 20. Jahrhundert Treffpunkt der Schönen und Reichen. Der imaginäre «Webstuhl der Geschichte» verwob ihre Ausdrücke und Erfahrungen mit denjenigen des Kurhotels sowie der dortigen Landbevölkerung. Auf diese Weise entstand ein Teppich mit Musterelementen, die bis heute nachwirken.

Roman Bertschi

Roman Bertschi

Roman Bertschi ist Historiker und beschäftig sich mit Themen der Alltagskultur.

Für «Gurnigel-Karrer» Albert Beyeler waren seine Fahrgäste «samt und sonders noble, vornehme, reiche Leute». Unter diesen hätten sich «Adlige, echte und unechte» befunden. «Saaltochter» Dori Baur-Balsiger beschreibt die Gäste als «hochnäsige, schnippische, […], anspruchsvolle Leute». Unter diesen hätten sich allerdings auch nette und freundliche befunden. Ob auch Heinrich Pestalozzi, Gottfried Keller oder Albrecht von Haller, die stellvertretend für viele Schweizer Berühmtheiten in diese Kategorie schafften, ist nicht mehr schlüssig nachzuweisen.
Druckgrafik des Kurhotels Gurnigelbad, um 1825.
Druckgrafik des Kurhotels Gurnigelbad, um 1825. Wikimedia
Das Gurnigelbad stach als grösstes und bekanntestes Kurhotels der Schweiz aus der Masse hervor. Dem dort aus dem Berg fliessenden Schwefelwasser attestierten Zeitgenossen schon im 16. Jahrhundert heilende Wirkung; weshalb sie darin badeten und davon tranken. Mit der Industrialisierung entwickelte sich der Kurort zur Nobel-Feriendestination mit überregionaler Ausstrahlung. Die Gurnigelbad-Gastgeber boten grosses Kino: Ein Garten mit vier Springbrunnen in englischer Anlage, Damensalons mit Aussenbereich oder Billardzimmer – für die Haute Volée blieben wohl nur die wenigsten Wünsche unerfüllt. Wer dieser nicht angehörte, musste dennoch nicht auf Bäder und Spektakel verzichten: Die rund 50 Betten der Sennhütte ermöglichten auch Menschen mit kleinerem Budget den Aufenthalt.
Schwarzbrünnlein-Quelle beim Gurnigelbad, 1821.
Gurnigelbad erlebte eine rasante Entwicklung: Vom bescheidenen Bad im Wald zum... Wikimedia
Blick in ein Zimmer, in welchem Kur-Bäder verabreicht wurden.
... modernen Kurhotel mit gutem Service. Staatsarchiv des Kantons Bern
Auch wenn der Reichtum des Bades denjenigen der umgebenden Landregion überstrahlte, war es durch wirtschaftliche Beziehungen stark darin integriert. Von den Feldern und aus den Ställen der Bauern stammten einerseits Kartoffeln, Weizen oder Milch, andererseits arbeiteten viele Menschen aus Riggisberg oder dem ärmeren Rüschegg im Kurhotel. Nicht jeder und jede kam aber für die Stellen in den Wäschereien oder im Speisesaal in Frage: Ein guter Leumund etwa, war Bedingung um für das Wohl der Gäste sorgen zu «dürfen». Um solche Kriterien sicherzustellen, bauten die Hoteliers Sicherheiten, wie das Nicht-bereitstellen von Uniformen, ein. Auf diese und ähnliche Weise verunmöglichten sie prekariär lebenden Personen die Möglichkeit zur Bewerbung.
Fotografie der «Saaltöchter» aus dem Geschäftsbuch von 1892.
Fotografie der «Saaltöchter» aus dem Geschäftsbuch von 1892. Burgerbibliothek Bern
Champagner, Zigarren und Badestunden: Die «Gurnigelstory» wäre wohl noch lange so weitergelaufen, wenn nicht ein Brand im Jahr 1902 fast sämtliche Gebäude zerstört hätte. Unmittelbar nach dieser Zäsur stampften die Besitzer jedoch einen prunkvollen Steinbau aus dem Boden. Die Fertigstellung nahm Hoteldirektor Hans Krebs zum Anlass, das neue Hotel als so lang wie die «Spitalgasse in Bern von der Heiliggeistkirche bis zum Bärenplatz» zu bezeichnen – und bereits 1905 fanden sich abermals Gäste ein.
Flugaufnahme des Gurnigelbads von 1926.
Für den Hoteldirektor war das neu gebaute Gurnigelbad «so lang wie die Spitalgasse in Bern». Flugaufnahme von 1926. ETH Bibliothek Zürich
Hauptgalerie mit Geschäften im Gurnigelbad. Bild von 1890.
Und es hatte sogar eine vor Wind und Wetter geschützte «Einkaufsmeile». Bild von 1890. Burgerbibliothek Bern
Kein Zweifel: Angestellte wie Eigentümer waren bereit, an die in Flammen aufgegangene Ära anzuknüpfen. Doch aus verschiedenen Gründen gelang dies nicht: Erstens stiegen während des Ersten Weltkrieges die Kosten für Waren und Nahrungsmittel explosionsartig. Und nach Kriegsende folgte zweitens die Spanische Grippe, wodurch viele Menschen das Reisen unterliessen. Und nur zehn Jahre später brach in New York drittens die Weltwirtschaftskrise aus. Ihre Auswirkungen spürten die Menschen auch in Europa bis weit in die 1930er-Jahre hinein. Die Verantwortlichen stemmten sich zwar gegen die hereinbrechenden Krisen, zum Teil mit Erfolg. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brachte als sprichwörtlicher Tropfen die «Gurnigel-Badwanne» zum überlaufen. Für die Besitzerfamilie gab es nur noch den Ausweg eines Verkaufs an die Schweizer Armee als Ausweg – welche das Gebäude 1946 sprengte.
Rotes Kreuz an der Arbeit, 1918 in Washington.
Wegen der Spanische Grippe blieben die Touristen zwischen 1918 und 1920 fast gänzlich aus. Wikimedia
Mit seiner Strahlkraft faszinierte das Grandhotel Menschen weit über die Landesgrenzen hinaus. In seinem Schatten existierten allerdings noch weitere Kurstätten, zum Teil auch noch lange nach Kriegsende. So etwa das bei Rüschegg positionierte Längeneybad oder das in der Gemeinde Guggisberg zu verortende Ottenleuebad. In den 1950er-Jahren bereits ausser Betrieb war das Buttningenbad, in der Nähe von Schwarzenburg. Allerdings kamen dessen ehemaligen Gäste auch nach der Schliessung in den Genuss des dortigen Quellwassers, und zwar in Form von Mineral- und Tafelwasser.
Fotografie des Kurorts Ottenleuebad, um 1920.
Fotografie des Kurorts Ottenleuebad, um 1920. ETH Bibliothek Zürich
Wie der Niedergang des Gurnigelbads exemplarisch zeigt, waren für dessen Ende sowohl geopolitische Krisen als auch lokale Zäsuren mitverantwortlich waren. Doch wer die Nachkriegsgeschichte betrachtet, erkennt, dass ebenso technischer Fortschritt zu deren Verschwinden beitrug. Denn statt das Kurbad zu besuchen, schluckten die Menschen beispielsweise vermehrt Tabletten. Und Bauunternehmen statteten Immobilien zunehmend mit Badewannen aus, womit Baden mehr und mehr zu einer Angelegenheit der «eigenen vier Wände» wurde. Folgerichtig nahm die Bäderzahl stetig ab: Auf Bernischem Kantonsgebiet existierten 1918 noch 38 Mineralbäder, 1955 sank die Zahl auf 24.

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