Zürcherinnen und Zürcher geniessen den zugefrorenen See während der Seegfrörni von 1963. Ausschnitt aus Filmaufnahmen von Adolf Borsari, 1963. NZZ / YouTube

Vom Ausnah­me­ereig­nis der Seegfrörni

Was heute fast unvorstellbar ist, wurde im Winter 1963 Realität: Der Zürichsee war komplett zugefroren. Am 1. Februar 1963 gaben die Behörden die Eisfläche frei und das letzte Volksfest auf dem Zürichsee begann.

Julia Hübner

Julia Hübner

Julia Hübner ist Historikerin und Kuratorin des Ortsmuseums Meilen.

Eine Seegfrörni auf dem Zürichsee ist ein seltenes und spektakuläres Ereignis. Aus meteorologischer Sicht spricht man von einer Seegfrörni, wenn ein See während mehr als einem Tag vollständig oder fast vollständig mit Eis bedeckt ist. In Erinnerung bleibt eine Seegfrörni aber vor allem wegen der Volksfeste, die auf dem begehbaren Eisfeld stattfanden. Damit sich auf dem gesamten Zürichsee eine begehbare Eisfläche bildet, braucht es eine Kältesumme von 350 Grad (beispielsweise 35 Tage mit einer mittleren Temperatur von minus zehn Grad). Bei der letzten Seegfrörni 1962/63 gab es bereits im November eine erste Kälteperiode und der Winter war mehr als fünf Grad kälter als ein durchschnittlicher Winter, sodass eine Kältesumme von 500 Grad erreicht wurde. Nach Belastungsproben durch den Glaziologen der ETH, Dr. Hans Röthlisberger, wurde der Zürichsee mit einer mittleren Eisdecke von 13 cm am 1. Februar 1963 um 12 Uhr für die Bevölkerung frei gegeben. Eine wichtige Rolle hatte die Seepolizei inne, die für die Sicherheit zuständig war und Regeln aufstellte, wie man sich auf dem Eis zu verhalten hatte. Die Eispolizei wurde mit Schlittschuhen, Megaphonen und Funkgeräten ausgestattet und an den Wochenenden mit zusätzlichen Ordnungskräften verstärkt.
Belastungsprobe auf dem gefrorenen Zürichsee, 1963.
Belastungsprobe: Fünf mit Wasser gefüllte 200-Liter-Fässer wurden dicht nebeneinandergestellt. Die Eisdecke senkte sich im Zentrum um 3,5 cm. Nach zwei Stunden wurden zwei weitere Fässer dazu gestellt, sodass sich insgesamt nun 1400 kg auf drei Quadratmetern befanden. Es entstanden zwar Risse, aber die Fässer sanken so langsam ein, dass ein Sprung aus der Gefahrenzone möglich gewesen wäre. Weitere Fässer, die man in einiger Entfernung vom zentralen Belastungsort aufgestellt hatte, blieben stehen. Die Belastungsprobe bestätigte damit Berechnungen, die von einer Sicherheitsgrenze von 10 cm Eisdicke ausgingen. Keystone / Photpress Archiv
Es begann ein wochenlanges Spektakel auf der 88 km² weiten, grösstenteils spiegelblanken Natureisbahn. Die Seegfrörni bestimmte auf Wochen das Leben und Denken am See. Zu Tausenden strömten die Menschen auf die Eisfläche, um den überwältigenden Anblick des erstarrten Zürichsees zu erleben. Das aussergewöhnliche Naturereignis zog selbstverständlich auch viele Auswärtige an. Wie viele Personen sich gleichzeitig auf dem See befanden, lässt sich nur schätzen. An den Wochenenden sollen es bis zu 150’000 Personen gewesen sein. Die Schüler im Einzugsgebiet des Zürichsees erhielten extra einen Tag schulfrei, damit sie dieses einmalige Erlebnis ausreichend geniessen konnten.
Der zugefrorene Zürichsee am 27. Januar 1963.
Der zugefrorene Zürichsee am 27. Januar 1963. ETH-Bibliothek / Comet Photo AG
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Tausende Menschen vergnügen sich auf dem See. Postkarte mit Blick über die Badanstalt Utoquai, 1963.
Tausende Menschen vergnügen sich auf dem See. Postkarte mit Blick über die Badanstalt Utoquai, 1963. Schweizerisches Nationalmuseum
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Ob zu Fuss, mit Velo oder Schlittschuhen: Dank dem zugefrorenen See gab es ganz neue Routen zu entdecken.
Ob zu Fuss, mit Velo oder Schlittschuhen: Dank dem zugefrorenen See gab es ganz neue Routen zu entdecken. ETH-Bibliothek / Jack Metzger
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Postkarte zur Erinnerung an die Seegfrörni von 1963.
Postkarte zur Erinnerung an die Seegfrörni von 1963. Schweizerisches Nationalmuseum
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Das Eisfeld vor Meilen am 3. Februar 1963. ETH-Bibliothek / Comet Photo AG
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Auf dem Eis gab es unterschiedliche Mittel der Fortbewegung: zu Fuss, mit Schlittschuhen, auf Skiern, im Schlitten, auf dem Velo und sogar im Eissegler. Motorisierte Fortbewegungsmittel waren allerdings ausschliesslich der Seepolizei vorbehalten. Diese hatte extra für die Seegfrörni vier Raupenschlitten bereitgestellt. Auch für Sportbegeisterte gab der zugefrorene See viel her – vom Pirouetten drehen auf Schlittschuhen, Eishockey-, Curling- und Fussballturnieren bis zum Unikum eines Seegfrörni-Marsches war allerhand geboten. Es fand sogar der 1. Zürcher Seegfrörni-Lauf über 42 km statt, den der bekannte Basler Eisschnellläufer Louis Rapelli gewann.
Dokumentation zur Seegfrörni und dem ersten Zürcher Seegfrörni-Eislauf von 1963. NZZ / YouTube
Am See standen zahlreiche Verkaufsbuden mit allerlei heissen Getränken, Würsten und Marroni, Rauchwaren und Gebäck. Zudem konnte man Andenken wie Kaffeetassen, Schals, Postkarten und Zigarettenhalter erwerben. Überall auf dem See wurden Eisfeste veranstaltet und zur Erinnerung konnte man sich mit einem Eisbären fotografieren lassen. Die Zürichsee-Zeitung knüpfte an die Tradition der «Eiszeitung» von 1880 und 1891 an und gab die «Seegfrörniposcht» heraus. Sogar Fasnachtsveranstaltungen wurden auf den zugefrorenen See verlegt und eine Eisstrasse führte von Rapperswil bis nach Zürich. Im Auftrag der SBB entstand am unteren Seebecken ein Film mit 1000 Schulkindern als Statisten, der an der Expo 64 aufgeführt wurde. Am 8. März 1963 wurde die Eisfläche auf dem Zürichsee gesperrt. Die Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft versuchte am 25. März 1963 mit dem Schiff «Wädenswil», das als Eisbrecher diente, nachzuhelfen. Es dauerte Wochen, bis sich wieder der gewohnte Anblick einer bewegten Wasserfläche zeigte. Die Seegfrörni von 1963 war ein einziges, grosses Eisfest. Auch in Zukunft wird es kalte Winter geben, aber eine erneute Seegfrörni ist mit der Klimaveränderung sehr unwahrscheinlich geworden.
Sendung «Antenne» vom 4. Februar 1963 zur Seegfrörni auf dem Zürichsee. SRF

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