Gustav Gulls Entwurf für das Schweizerische Landesmuseum in Zürichs Bewerbung um den Museumssitz, 1890.
Gustav Gulls Entwurf für das Schweizerische Landesmuseum in Zürichs Bewerbung um den Museumssitz, 1890. Schweizerisches Nationalmuseum

Gulls grosse Chance

Mit der Planung des Landesmuseums Ende des 19. Jahrhunderts begann Gustav Gulls Aufstieg zum Stararchitekten.

Cristina Gutbrod

Cristina Gutbrod

Cristina Gutbrod ist Architekturhistorikerin und wohnt in Zürich.

1898 war Gustav Gull (1858–1942) der bekannteste und einflussreichste Architekt der Stadt Zürich. Mit dem Schweizerischen Landesmuseum vollendete er einen Grossbau von nationaler Bedeutung und internationaler Ausstrahlung. Gleichzeitig konnte er als Stadtbaumeister die Ausführung des heutigen Stadthauses beginnen. Den Grundstein seiner herausragenden Architektenkarriere hatte er 1890 mit dem Entwurf des Landesmuseums gelegt.
Mit solchen Zeichnungen konnte Gustav Gull alle Beteiligten von «seinem» Landesmuseum überzeugen.
Mit solchen Zeichnungen konnte Gustav Gull alle Beteiligten von «seinem» Landesmuseum überzeugen. Schweizerisches Nationalmuseum
Die einzigartige Chance, den Entwurf für Zürichs Bewerbung um den Museumssitz beim Bund anzufertigen, erhielt Gull durch Zufall. Noch kurz vor Abgabefrist fehlte dem Initiativkomitee für ein Landesmuseum in Zürich ein Projekt für das Museumsgebäude. Die Stadt bot einen herausragenden Bauplatz an: die von Limmat und Sihl umflossene Platzpromenade, wo 1883 die Industriehalle der Schweizerischen Landesausstellung gestanden hatte. Einen besonderen Stellenwert nahmen für die Initianten eines Landesmuseums in Zürich die Historischen Zimmer ein. Der einflussreiche Zürcher Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn hatte die in Schweizer Stuben enthaltenen kunstgewerblichen Arbeiten als spezifisch nationale Kunstausprägung gewürdigt. Damit prägte er die Ankaufspolitik des künftigen Landesmuseums. Obschon der Bund die Schaffung eines Nationalmuseums zunächst nicht präjudizieren wollte, hatte er seit 1887 eine Anzahl historischer Raumausstattungen aus dem 15. bis zum 17. Jahrhundert angekauft. In der Bewerbung um den Museumssitz offerierte Zürich als Ergänzung die berühmte Prunkstube aus dem Alten Seidenhof sowie zwei Stuben aus dem Äbtissinnenhof des einstigen Fraumünsterklosters.
Die Tuschfederzeichnung von Gustav Gull wirft einen Blick aus dem Museumshof auf den Torturm. Das Bild war Teil der Bewerbung für den Zürcher Museumssitz.
Die Tuschfederzeichnung zeigt den Museumshof mit Blick auf den Torturm. Das Bild war Teil der Bewerbung für den Zürcher Museumssitz. Schweizerisches Nationalmuseum
Idealdarstellung der kleinen Äbtissinnenstube in Zürichs Bewerbung, gezeichnet und signiert von Hermann Fietz.
Idealdarstellung der kleinen Äbtissinnenstube in Zürichs Bewerbung, gezeichnet und signiert von Hermann Fietz. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Promotoren eines Landesmuseums in Zürich wünschten sich keinen «Museumskasten», sondern ein Gebäude, das zu den Historischen Zimmern passte. Zwei renommierte Architekten aus ihrem Umkreis – Alfred Friedrich Bluntschli und Albert Müller – wiesen die Entwurfsaufgabe jedoch zurück. Möglicherweise sahen sie, dass sie als Vertreter der von Gottfried Semper geprägten Neurenaissance die vagen architektonischen Vorstellungen des Initiativkomitees nicht erfüllen konnten. Der vermutlich von Bluntschli und Rahn vermittelte junge Architekt Hermann Fietz schlug darauf die Zusammenarbeit mit Gustav Gull vor. 1886–1888 hatte Gull das eidgenössischen Postgebäude in Luzern realisiert, konnte in Zürich jedoch nicht an diesen ersten Erfolg anknüpfen.
Hermann Fietz war über 30 Jahre lang Zürcher Kantonsbaumeister.
Hermann Fietz war über 30 Jahre lang Zürcher Kantonsbaumeister. e-periodica
Gustav Gull in den 1930er-Jahren.
Gustav Gull in den 1930er-Jahren. ETH Bibliothek Zürich
Gull ergriff die einzigartige Gelegenheit. Innert kürzester Zeit gelang es den beiden Architekten, einen neuartigen Museumsentwurf auszuarbeiten. Auf den Zeichnungen betonte Gull seine Rolle als Urheber. Fietz überliess seinem älteren Kollegen die Autorschaft und zog sich bald vom Projekt zurück – zugunsten eigener Aufträge und der Arbeit im Büro von Bluntschli. Gull entwarf keinen symmetrischen Monumentalbau, sondern ein Konglomerat, in das sich die originalen Architekturelemente organisch einfügen liessen. Dabei orientierte er sich an Übergangsformen aus der Zeit zwischen Spätgotik und Renaissance in der Schweiz. Dass er sich von der Semper-Tradition lösen konnte, verdankte er nicht zuletzt Rahn, der die Kunstgeschichte der Schweiz vom Mittelalter bis in die Renaissance erstmals in ein Gesamtbild gebracht hatte. Mit Gulls Museumsentwurf hatte die Bewerbung der Stadt Zürich durchschlagenden Erfolg. Dies zeigt sich auch darin, dass die Stadt Bern ihr Museumsprojekt während des Auswahlverfahrens zurückzog. Sie ersetzte es durch ein solches, das die Architekturformen des Gullschen Entwurfs aufgriff – das heutige Bernische Historische Museum.
Das Bernische Historische Museum auf einem zwischen 1896 und 1900 aufgenommenen Bild.
Das Bernische Historische Museum auf einem zwischen 1896 und 1900 aufgenommenen Bild. Burgerbibliothek Bern
Noch während der Bauzeit trat Gull 1895 die Stelle des zweiten Stadtbaumeisters von Zürich an – eine Position mit grossem Machtpotential. Mit der Eingemeindung von elf Vororten 1893 war Zürich zur grössten Stadt der Schweiz geworden. Die Stadt wünschte sich neue Verwaltungsbauten, die Zürichs Bedeutung als Grossstadt entsprechen sollten. Im Entwurf des Landesmuseums war es Gull gelungen, eine Architektur zu entwickeln, die für Geschichtsbewusstsein, aber auch für Gegenwartsbezug stand. Stadtpräsident Hans Pestalozzi hatte dem Initiativkomitee für ein Landesmuseum in Zürich angehört und war von Gulls entwerferischen Fähigkeiten begeistert. Gull war für die Stelle des zweiten Stadtbaumeisters prädestiniert. Dass sich die Stadt trotz des langsamen Baufortschritts beim Landesmuseum entschieden hatte, ihm das Amt zu übertragen, führte jedoch zu erheblichen Konflikten zwischen den Stadt- und den Museumsbehörden. Deshalb stellte die Stadt die Projektierung städtischer Verwaltungsbauten zunächst hinter die Vollendung des Landesmuseums zurück. Während der Bauzeit errichtete Gull einzig das Schulhaus an der Lavaterstrasse, das er in den Architekturformen des Landesmuseums gestaltete. Dadurch erfüllte er die in ihn gesetzten Erwartungen als Stadtbaumeister voll und ganz.
Die Lavater-Schulanlage in Zürich.
Die Lavater-Schulanlage in Zürich. Baugeschichtliches Archiv
Als Architekt des Landesmuseums trat Gull für die Erhaltung historischer Baudenkmäler und für die Wiederbelebung originaler Architekturelemente im Museum ein. Zugleich transformierte er als Stadtbaumeister zwei historisch anspruchsvolle Areale, die mit mittelalterlicher Bausubstanz belegt waren. Vom Spannungsverhältnis zwischen Erhaltung und Erneuerung, das Gulls Entwurfstätigkeit als Architekt des Landesmuseums und Stadtbaumeister charakterisiert, zeugen die Stuben aus den einstigen Abteigebäuden des Fraumünsterkloster im Landesmuseum: Als das Museum am 25. Juni 1898 feierlich eröffnet wurde, war der Abbruch der Abteigebäude in vollem Gang. Im Stadthausbau suchte Gull Anschluss an den Entwurf des Landesmuseums und nach einer architektonischen Vermittlung zur verlorenen Klosterarchitektur – mit Erfolg. Als er die Stelle des zweiten Stadtbaumeisters 1900 zugunsten einer Professur am Eidgenössischen Polytechnikum verliess, stand für die Stadt ausser Zweifel, ihm die Ende 1897 angefangene Projektierung eines Stadthauskomplexes auf dem Areal des einstigen Oetenbachklosters zu überlassen. Es handelte sich um den damals bedeutendsten und grössten Auftrag der Stadt Zürich, aus dem die heutigen Amtshäuser hervorgingen.
Das von Gull entworfene Zürcher Stadthaus am Standort des ehemaligen Klosters Fraumünster. Aufnahme um 1915.
Das von Gull entworfene Zürcher Stadthaus am Standort des ehemaligen Klosters Fraumünster. Aufnahme um 1915. ETH-Bibliothek

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