Die Landschaft am heutigen Schienerberg vor 13 Millionen Jahren. Ausschnitt aus einem Monumentalgemälde des Zürcher Landschafts- und Architekturmalers Adolf Rudolf Holzhalb, Zürich, 1871.
Die Landschaft am heutigen Schienerberg vor 13 Millionen Jahren. Ausschnitt aus einem Monumentalgemälde des Zürcher Landschafts- und Architekturmalers Adolf Rudolf Holzhalb, Zürich, 1871. © focusTerra – ETH Zürich

Der Zeuge der Sintflut

Das versteinerte Skelett eines Riesensalamanders aus den Öhninger Steinbrüchen gehört zu den berühmtesten Fossilien der Geschichte. Der Zürcher Johann Jakob Scheuchzer hielt es für die Überreste eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen.

Felix Graf

Felix Graf

Felix Graf, bis 2017 Kurator am Landesmuseum Zürich, ist freier Publizist.

Die nahe der Schweizer Grenze gelegenen Öhninger Steinbrüche am nördlichen Ufer des Untersees sind seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts weltberühmt. Hunderte von Tier- und Pflanzenarten sind aufgrund der dortigen Fossilienfunde erstmals beschrieben worden. Die Pflanzen und Tiere, insbesondere die Blätter der Uferbäume, die Libellen und die Fische, die von feintonigem Kalkschlamm überdeckt wurden, sind ausserordentlich gut erhalten. Der wohl spektakulärste Fund ist das versteinerte Skelett eines Riesensalamanders, das bereits 1725 in die Sammlung des Zürcher Arztes und Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer gelangte, jenes barocken Universalgelehrten, der das lateinische Wort Physica erstmals mit Naturwüssenschaft ins Deutsche übersetzt und das erste Physikbuch in deutscher Sprache geschrieben hat.
Porträt von Johann Jakob Scheuchzer. Druckgrafik, um 1731.
Porträt von Johann Jakob Scheuchzer. Druckgrafik, um 1731. e-rara
Scheuchzer, der führende Kopf der Zürcher Frühaufklärung, erhielt schon vor 1725 über Mittelsmänner wie den Arzt Hans Kaspar Blass und den Stadtpfarrer Hans Ulrich Holzhalb aus Stein am Rhein Versteinerungen aus den knapp fünf Kilometer seeaufwärts gelegenen Öhninger Brüchen und publizierte sie unter Titeln wie Piscium querelae et vindiciae (Klagen und Schutzrede der Fische) und Herbarium diluvianum (Sintflutliches Herbar). Scheuchzers paläontologische Sammlung, das rund 2500 Fossilien umfassende Museum Diluvianum, ist zu grossen Teilen erhalten geblieben. Unter den im Paläontologischen Institut der Universität Zürich aufbewahrten Stücken befindet sich auch der berühmte Vorsintflutliche Hecht (Lucius antediluvianus), der in der erwähnten, nach dem Vorbild der humanistischen Lehrdialoge verfassten Aufklärungsschrift Klagen der Fische als Wortführer auftritt und erklärt, dass sie, die versteinerten Fische, nicht launige Spiele der Natur seien, wie bisher angenommen, sondern in der Sintflut umgekommene Lebewesen.

Pionier der Paläontologie

Mit seiner Deutung der Fossilien als Überreste von echten Pflanzen und Tieren war Scheuchzer einem Grossteil seiner Zeitgenossen weit voraus. Am meisten Aufsehen erregte seine Interpretation des erwähnten fossilen Riesensalamanders als Relikt eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen. HOMO DILUVII TESTIS. Bein-Gerüst / Eines in der Sündflut ertrunkenen Menschen, betitelt er den Einblattdruck, in dem er das Fossil 1726 abbildet und minutiös beschreibt. Als Druckjahr gibt er 4032 nach der Sintflut an. Fünf Jahre später publiziert er das spektakuläre Stück im ersten Band seiner ganzseitig illustrierten Kupfer-Bibel oder Physica sacra. Die Kupfer-Bibel gehört mit ihren 759 Kupfertafeln zu den am reichsten illustrierten Werken des 18. Jahrhunderts. Scheuchzer versucht in dem vierbändigen Werk den biblischen Schöpfungsbericht mit der aufklärerischen Naturwissenschaft in Übereinstimmung zu bringen. Kein leichtes Unterfangen. Aber er wird solchermassen zum wichtigsten Wegbereiter der modernen Paläontologie. Der zur Erinnerung an Scheuchzers Pionierrolle mit dem zoologischen Namen Andrias scheuchzeri versehene Riesensalamander existiert übrigens noch: in China und in Japan. Das versteinerte Exemplar aus Scheuchzers Sammlung liegt heute in Teylers Museum in Haarlem.
Auf dem Einblattdruck HOMO DILUVII TESTIS stellt Scheuchzer dem Publikum die Versteinerung eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen vor.
Auf dem Einblattdruck HOMO DILUVII TESTIS stellt Scheuchzer dem Publikum die Versteinerung eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen vor. e-rara
Exemplar eines versteinerten Riesensalamanders aus den Öhninger Steinbrüchen in Teylers Museum in Haarlem (NL).
Exemplar eines versteinerten Riesensalamanders aus den Öhninger Steinbrüchen in Teylers Museum in Haarlem (NL). Wikimedia
Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie es auf dem am nördlichen Ufer des Untersees gelegenen Schienerberg vor 13 Millionen Jahren ausgesehen haben könnte, als neben Weiden und Pappeln, Eichen und Buchen, Platanen, Feigen- und Lorbeerbäumen auch Palmen sowie Zimt- und Kampferbäume am Ufer eines längst verschwundenen Sees standen und aus dem subtropischen Auenwald das Geschrei der Affen und die Trompetenstösse aus dem Rüssel des Mastodon zu hören waren und obendrein der Öhninger Fuchs, der Zibet, durch die Uferregionen streifte. Ein fast vollständig erhaltenes, fossiles Exemplar des ausgestorbenen Tiers liegt in der Sammlung des British Museum. Einen Eindruck der miozänen Lebenswelt am Schienerberg vermittelt ein Monumentalgemälde des Zürcher Landschafts- und Architekturmalers Rudolf Holzhalb (1835–1885). Das nach Anweisungen des Geologen Arnold Escher von der Linth und des Botanikers Oswald Heer 1871 entstandene Ölbild befindet sich heute an der ETH in Zürich im erdwissenschaftlichen Forschungs- und Informationszentrum focusTerra. Es ist öffentlich zugänglich.
«Oeningen zur Tertiärzeit», Ölgemälde von R. Holzhalb, 1870/71, ausgestellt in focusTerra, dem Earth & Science Discovery Center der ETH Zürich.
«Oeningen zur Tertiärzeit», Ölgemälde von R. Holzhalb, 1870/71, ausgestellt in focusTerra, dem Earth & Science Discovery Center der ETH Zürich. © focusTerra – ETH Zürich
Die Öhninger Steinbrüche liegen auf dem Gebiet des heutigen Ortsteils Wangen. Nach Öhningen wurden sie benannt, weil die Augustinerchorherren aus dem dortigen Stift als Erste auf die Versteinerungen aufmerksam machten. Der Kalkabbau begann bereits um 1500. Die Gänge des Öhninger Klosters und die Sakristei der Stiftskirche sind mit Platten aus den Steinbrüchen belegt. Wegen seines hohen Bitumengehaltes ist der feinporige Öhninger Kalkstein auch als Stinkkalk bezeichnet worden. Als Werkstoff in die Kunstgeschichte eingegangen ist er durch die Arbeiten des gebürtigen Niederländers Hans Morinck, jenes 1582 in Konstanz eingebürgerten Stein- und Holzbildhauers, der mit seinen nach niederländischen Stichvorlagen geschaffenen Halb- und Hochreliefs zum bedeutendsten Künstler des Bodenseeraums der Zeit um 1600 wurde. Auch Hans Konrad Asper, der 1613 in Konstanz zum Katholizismus konvertierte Enkel des Zürcher «Reformationsmalers» Hans Asper, arbeitete mit Öhninger Kalkstein. Das wohl berühmteste Beispiel ist die lebensgrosse Skulptur auf dem Grabmal des Ritters Johann Walter von Roll in der Schlosskapelle in Mammern (TG). Der Kopf und die Hände der erstklassigen Plastik sind aus Öhninger Stinkkalk geschaffen, der Körper und der Sarkophag aus Rorschacher Sandstein. Es handelt sich dabei um eine der ganz wenigen Steinskulpturen von zeitgenössischen Persönlichkeiten in der damaligen Schweiz.
Grabmal von Ritter Johann Walter von Roll (1579–1639), Erbauer des Schlosses Mammern (heute Klinik Schloss Mammern).
Grabmal von Ritter Johann Walter von Roll (1579–1639), Erbauer des Schlosses Mammern (heute Klinik Schloss Mammern).   Foto: Felix Graf

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