Pitigrilli alias Flamel alias Dino Segre war ein politisches Chamäleon und ein Spion. Illustration von Marco Herr.
Pitigrilli alias Flamel alias Dino Segre war ein politisches Chamäleon und ein Spion. Illustration von Marco Herr.

Pitigril­li, ein Chamäleon zwischen den Fronten

Er schrieb Skandalromane, gab sich als Antifaschist aus und spionierte für Mussolini. Nach seiner Flucht in die Schweiz kam Pitigrillis wahres Gesicht zum Vorschein.

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Die Insassen eines Autos mit Turiner Nummernschild, das am 11. März 1934 am italienisch-schweizerischen Grenzübergang Ponte Tresa kontrolliert wurde, erweckten den Anschein von Geschäftsreisenden. Doch der Schein trog. Bei Sion Segre und seinem Beifahrer Mario Levi fand man antifaschistische Flugblätter und Zeitungen. Als die jungen Männer zur Grenzpolizei geführt wurden, rannte Levi blitzschnell weg. Mit Hut und Mantel stürzte er sich in den Luganersee und schwamm Richtung Schweiz. Während er von Tessiner Zöllnern gerettet wurde, schrie er erschöpft: «Es lebe Italien! Es lebe die Freiheit!». Am anderen Ufer nahm die italienische Polizei Sion Segre in Gewahrsam. In der Folge kam es in Turin zu Verhaftungen und einem Prozess gegen Mitglieder der 1929 gegründeten Bewegung «Giustizia e Libertà» («Gerechtigkeit und Freiheit»). Die Gruppierung liberaler und reformsozialistischer Intellektueller kämpfte für ein freies demokratisches Italien. Sie operierte von Paris aus und war in Italien im Untergrund tätig.

Agent im Schlafwagen

Kurz nach Sion Segres Verhaftung erhielt seine Familie Besuch von einem Cousin. Dino Segre hatte unter dem Pseudonym Pitigrilli mit Büchern wie «Luxusweibchen» oder «Der Keuschheitsgürtel» zwielichtige Berühmtheit erlangt. Seinen Skandalroman «Kokain», in 16 Sprachen übersetzt, hatte der Vatikan auf den Index gesetzt. Zynisch blickte der Journalist und Autor auf die Welt, ohne Respekt vor Konventionen und voller Verachtung für das Bürgertum, dem er selbst entstammte. Seine Bonmots waren berühmt, sein Auftreten elegant, seine Affären berüchtigt. Einem kurzen Gefängnisaufenthalt verdankte er unverdient den Ruf eines Antifaschisten. Seine Geliebte, die Dichterin Amalia Guglielminetti, hatte ihn nach der Trennung aus Rache der Gegnerschaft zum Regime beschuldigt.
Dino Segres Geliebte Amalia Guglielminetti brachte den Spion aus Eifersucht ins Gefängnis. Das Bild von ihr entstand in den 1930er-Jahren.
Dino Segres Geliebte Amalia Guglielminetti brachte den Spion aus Eifersucht ins Gefängnis. Das Bild von ihr entstand in den 1930er-Jahren. Wikimedia
Deutsche Erstausgabe von Pritigrillis «Kokain», 1927.
Deutsche Erstausgabe von Pritigrillis «Kokain», 1927. Wikimedia
Obwohl in den Turiner Intellektuellenkreisen nicht sehr beliebt, gewann der 41-Jährige als Cousin von Sion Segre und dank der Hafterfahrung das Vertrauen der Anführer von «Giustizia e Libertà» in Turin und Paris. Im Schlafwagen erster Klasse reiste er zwischen den Städten hin und her, im Gepäck antifaschistische Schriften, im Kopf vertrauliche Informationen. Was man in Paris und Turin nicht wusste: Pitigrilli war seit 1930 Agent der faschistischen Geheimpolizei OVRA. Für ihn gebe es auf der Welt nur «Schlaue, die ausnutzen, und Idioten, die sich ausnutzen lassen», hatte die Journalistin Barbara Allason 1922 über Pitigrilli geschrieben. Als Mitglied von «Giustizia e Libertà» erfuhr sie schmerzlich, wie zutreffend ihre Charakterisierung war. Ein Jahr, nachdem sich der Schriftsteller in die Bewegung eingeschleust hatte, gelang der Polizei 1935 ein vernichtender Schlag gegen die Turiner Gruppe und die Verhaftung sämtlicher führender Mitglieder. Das Regime ging mit grosser Härte gegen die meist jungen Oppositionellen vor. Für ihre Zugehörigkeit zu einer illegalen Gruppierung bestrafte man sie mit langjährigen Haftstrafen oder Verbannung.
Porträt von Dino Segre alias Pitigrilli, 1924.
Porträt von Dino Segre alias Pitigrilli, 1924. gallica / Bibliothèque nationale de France
In den Jahren hinter Gefängnismauern – Jahre, in denen Mussolini einen Eroberungskrieg in Ostafrika führte, einen Pakt mit Hitler schloss, und an der Seite von Nazideutschland in den Krieg eintrat – blieb viel Zeit zum Überlegen, wer die Polizei informiert haben könnte. Zunehmend reifte die Gewissheit, dass es Pitigrilli gewesen war. Dieser geriet Ende der 1930er-Jahre selbst ins Visier der faschistischen Behörden. Nach der Einführung der Rassengesetze 1938 wurde seine halbjüdische Herkunft für ihn zur Hypothek, auch politisch traute man ihm immer weniger. 1940 verschwand er von der Liste der OVRA-Agenten. Einer Internierung entging er nur knapp dank der Fürsprache von Mussolinis Schwester Edvige, mit der er befreundet war.
Edvige Mussolini auf einer Fotografie von 1918.
Edvige Mussolini auf einer Fotografie von 1918. Wikimedia
Im Sommer 1943 drehte der politische Wind. Der Duce wurde gestürzt und gefangengesetzt, die neue italienische Regierung vereinbarte einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Politische Häftlinge, unter ihnen die von Pitigrilli verratenen Turiner Antifaschisten, kamen aus den Gefängnissen. Im September besetzten deutsche Truppen Nord- und Mittelitalien, befreiten Mussolini und setzten ihn als Staatsoberhaupt einer faschistischen Marionettenrepublik am Gardasee ein. Zehntausende – Soldaten, Jüdinnen und Juden, Oppositionelle – ergriffen die Flucht und überquerten auf illegalen Pfaden die Schweizer Grenze. Einer von ihnen war Pitigrilli. Am 17. September 1943 registrierte man ihn in der Schweiz als politischen Flüchtling. Anfangs in einem Lager interniert, konnte der Literat bald nach Lausanne umsiedeln, wo er Bekannte hatte. Im Oktober 1943 verbreitete Radio Bari eine Meldung, die aus Turin ins freie Süditalien gelangt war: «Nehmen Sie sich in Acht vor Dino Segre, besser bekannt unter dem Pseudonym Pitigrilli (…). Er ist ein Denunziant und hat bereits etwa 50 Personen an die faschistischen Behörden verraten.» Im Chaos, das nach der deutschen Besetzung herrschte, ging die Nachricht unter, bis italienische Zeitungen sie anfangs 1944 erneut aufnahmen. Nun reagierte der Schweizer Armeestab und informierte die Bundesanwaltschaft. Diese unternahm jedoch nichts und so galt der Schriftsteller in seinem Exil weiter als Antifaschist.
Die Armee informierte die Bundesanwaltschaft 1944 über die zweifelhafte Vergangenheit von Pitigrilli. Die Konsequenzen blieben aus.
Die Armee informierte die Bundesanwaltschaft 1944 über die zweifelhafte Vergangenheit von Pitigrilli. Die Konsequenzen blieben aus. Schweizerisches Bundesarchiv
Trotz der privilegierten Situation als «Privatinternierter» fühlte sich Pitigrilli in Lausanne eingeschränkt. Er durfte den Aufenthaltsort nicht unbewilligt wechseln, nicht arbeiten, keine Artikel publizieren. Bei wem sollte er sich beklagen? Ein Brief an den Tessiner Bundesrat Enrico Celio, den er fälschlicherweise für den Bundespräsidenten hielt, schien opportun. Die poetischen Worte, in denen er seinen Mangel an Freiheit beschrieb, rührten den literaturaffinen Magistraten. Er bat den Polizeidirektor, etwas für den Autor zu tun, auch wenn dessen Schreibweise «oft etwas allzu leicht» sei. Der Beamte liess sich vom «grossen Talent» des italienischen Flüchtlings jedoch ebenso wenig beeindrucken wie die Verantwortlichen der Militärabteilung «Presse und Funkspruch». Pitigrillis Bitte, sich journalistisch betätigen zu dürfen, lehnten sie wiederholt ab. «Für schweizerische Begriffe» habe er «die Grenze des Erlaubten oft überschritten», befand die zuständige Stelle, «vor allem in der Behandlung erotischer Themata».
Bild von Bundesrat Enrico Celio, um 1945.
Bundesrat Enrico Celio setzte sich für eine grössere Freiheit von Dino Segre in der Schweiz ein. Vergeblich. Schweizerisches Nationalmuseum
Da man ihn legal nicht schreiben liess, verfasste Dino Segre, alias Pitigrilli, Artikel unter dem Pseudonym Flamel. Nicht zum ersten Mal bewies er damit seine Geringschätzung der Gesetze. Seit 1931 verheiratet und nie geschieden, hatte er sich 1940 in Lugano nochmals trauen lassen. Nach einer Jüdin war die zweite Frau, eine italienische Anwältin, Katholikin. Mit ihr trat er vor den kirchlichen Traualtar. Es war ein erster Schritt zu einem weiteren Identitätswandel. Vom zynischen Atheisten wurde Pitigrilli zum bekehrten Katholiken. Seine Konversion beschrieb er nach dem Krieg in einem von der katholischen Kirche gelobten Buch.

Spionage bis zum Schluss abgestritten

Ende April 1945, kurz vor der Ankunft der Alliierten, vertrieben Partisanenverbände die deutschen Truppen aus Norditalien. Mussolini wurde nahe der Schweizer Grenze auf der Flucht verhaftet und erschossen. Wenig später fanden Partisanen Pitigrillis Namen in Akten der Geheimpolizei. Als seine Agentenberichte im September publik wurden, reagierte auch der Bundesrat und schrieb den prominenten Flüchtling zur Fahndung aus. Der war jedoch bereits aus Lausanne verschwunden und untergetaucht. Bis 1947 lebte er mit seiner Familie, von den Behörden unentdeckt, zumindest zeitweise in der Schweiz, dann ging er nach Argentinien. Einflussreiche Freundinnen fand er auch in Südamerika. Er soll Evita Perón beim Verfassen ihrer Autobiographie geholfen haben. Doch wie so oft in Pitigrillis Leben bleibt bei dieser Anekdote unklar, wo die Wahrheit endet und die Fiktion beginnt. Der Dichter, der seine letzten Lebensjahre in Paris verbrachte, stritt die Spionage für die faschistische Geheimpolizei bis zum Schluss ab. Sein Motiv bleibt im Dunkeln. Die finanzielle Entschädigung brauchte der erfolgreiche Autor nicht. Echte Feinde, an denen er sich rächen wollte, hatte er keine. Die Faschisten und ihre Wertvorstellungen verachtete er. Vittorio Foa, der ihm blind vertraut und dadurch Jahre im Gefängnis verbracht hatte, mutmasste, er habe den Spion zur Unterhaltung gespielt, als wäre er eine Romanfigur. In seiner 1949 erschienenen Autobiographie «Pitigrilli parla di Pitigrilli» (Pitigrilli spricht über Pitigrilli) ist die Spionageaffäre mit keinem Wort erwähnt.

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