Viele Menschen aus dem Kanton Bern wanderten nach Amazonia im US-Bundesstaat Missouri aus. Illustration von Marco Heer.
Viele Menschen aus dem Kanton Bern wanderten nach Amazonia im US-Bundesstaat Missouri aus. Illustration von Marco Heer.

Briefe aus Amazonia

Das 19. Jahrhundert gilt für die Schweiz als eigentliches «Auswanderungsjahrhundert». Über 400'000 Menschen verliessen das Land, um sich an einem anderen Ort eine Existenz aufzubauen. Briefe aus dieser Zeit geben Einblick in das Leben der Ausgewanderten.

Reto Bleuer

Reto Bleuer

Reto Bleuer ist ehrenamtlicher Mitarbeiter des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern.

Die Siedlung Amazonia liegt nicht in Südamerika, wie der Name es vermuten lässt, sondern im Nordwesten des US-Bundesstaates Missouri. Das fruchtbare Hügelland lockte im 19. Jahrhundert Siedlerinnen und Siedler aus Europa an, die sich hier ein besseres Leben erhofften. Einer von ihnen war Peter Moser aus Wattenwil im Kanton Bern. Zusammen mit seinem Bruder Johannes brach er um 1834 in die Neue Welt auf und gelangte über Umwege in den äussersten Nordwesten von Missouri. Zu dieser Zeit war die dort ursprünglich ansässige indigene Bevölkerung bereits westwärts über den Fluss nach Kansas und Nebraska vertrieben worden. Mit dem Platte Purchase von 1836 hatten sie sich verpflichtet, in die vorbereiteten Reservate zu ziehen und ihr Land für wenig Geld an den Staat abzutreten. Dieses unrühmliche Kapitel der amerikanischen Geschichte ebnete den Siedlerinnen und Siedlern den Weg zur Erschliessung von neuem Farmland. So kaufte sich auch Peter Moser mithilfe eines günstigen Staatskredits Grund und Boden. Im Juni 1857 schloss er sich anderen Ausgewanderten unterschiedlicher Herkunft an, um gemeinsam ein grosses Grundstück in Andrew County zu erwerben. Das Land wurde in Gebäudeparzellen aufgeteilt und an weitere Neuankömmlinge verkauft. Das entstandene Städtchen erhielt den exotischen Namen Amazonia. Der Grund für diesen Namen soll ein Schiff mit dem Namen The Amazonia gewesen sein, das in der Nähe auf dem Missouri River gesunken war.
Peter Moser mit seiner Frau Anna. Sie waren mit dem gleichen Schiff nach Amerika übergesiedelt.
Peter Moser mit seiner Frau Anna. Sie waren mit dem gleichen Schiff nach Amerika übergesiedelt. Andrew County Museum
Moser war zu Beginn einer von wenigen Schweizer Ausgewanderten in der Gegend. Doch das ändert sich rasch. Immer mehr Landsleute trafen an den Ufern des Missouri ein. Viele von ihnen stammten aus dem Kanton Bern, sodass Amazonia und das Umland als «Berner Kolonie» bekannt wurden. Eine bemerkenswerte Dokumentation dieser Berner Siedlungsgeschichte und Berichte über den Alltag in Amazonia verdanken wir zwei Auswanderern, die ihre Erlebnisse in die alte Heimat übermittelten. Beide Schreiber stammten aus Frutigen im Berner Oberland. Beim Lehrer und Posthalter Samuel Egger liegen die Beweggründe für seine Auswanderung im Dunkeln. Für Rudolf Urwyler hingegen war es offensichtlich ein Neuanfang. Seine im Jahr 1866 erworbene Zündholzfabrik in Wydi/Frutigen war nach verschiedenen Vorfällen behördlich geschlossen worden. Urwyler war nach zahlreichen Gerichtsverfahren ein armer Mann. Die Familie Egger hatte Amazonia im Frühling 1881 erreicht. Unter dem Titel «Aus Amerika» erschien am 18. März 1882 erstmals ein Bericht von Samuel Egger in der Zeitung Täglicher Anzeiger für Thun und das Berner Oberland. Darin beschrieb er die Lage von Amazonia wie folgt: «Obschon ziemlich nahe am Missouristrom, ist doch keine Ueberschwemmung möglich, da sich die Kolonie über denselben erhebt, fast wie der Längenberg über die Aare.»
Die Vereinigten Staaten von Amerika, Karte aus dem Jahr 1877. In Rot hervorgehoben ist der Bundesstaat Missouri.
Im Nordwesten von Missouri liegt Andrew County, zu dem Amazonia gehört. Karte von 1897.
Detailansicht der Karte von 1897. Zu sehen sind Amazonia und das Grundstück von Peter Moser.
Im Oktober 1882 machte sich auch Rudolf Urwyler mit seiner Familie auf die Reise. Diese dokumentierte er in einer fünfteiligen Serie in derselben Zeitung unter dem hoffnungsvollen Titel: «Aus dem Erdtheile der Zukunft.» Die Familie Urwyler wurde nach ihrer Ankunft in Amazonia von den Eggers freundlich empfangen. Diese hatten sich bereits eine beeindruckende Existenz aufgebaut. Urwyler schwärmte in seinem Bericht: «Herr Egger […] thront wie ein Rittergutsbesitzer auf seinem 100 Jucharten grossen Gute, hat 4 Pferde, 3 Kühe, 1 Rind, 9 fette Schweine, 12 Faselschweine, eine Menge Hühner und eine reiche Ernte in Pfirsichen und Aepfel […]»
Hatte sich in der neuen Heimat eine beeindruckende Existenz aufgebaut: Samuel Egger.
Hatte sich in der neuen Heimat eine beeindruckende Existenz aufgebaut: Samuel Egger. geni.com
Nach einer anstrengenden Zeit als Taglöhner verfügte Rudolf Urwyler über ausreichend Kapital, um Land pachten zu können. Fortan erschienen in der Thuner Zeitung periodisch Berichte der beiden Auswanderer, oftmals unter dem Titel «Brief aus Amazonia». Der Fokus der beiden Neo-Farmer lag dabei verständlicherweise auf den Entwicklungen in der Landwirtschaft. So nannten und kommentierten sie die aktuellen Preise für Agrarprodukte, machten Angaben über Unwetter (Zyklone, Hitze- und Kältewellen) und berichteten über die meist unterschiedlich ausfallenden Ernteerträge. Dabei schien es vor allem Egger wichtig zu sein, die harte Realität des Siedlerlebens aufzuzeigen. Bereits im Frühling 1882 wandte er sich mit mahnenden Worten an auswanderungswillige Landsleute: «Bedenkt wohl, welchen wichtigen Schritt ihr zu thun gedenket; es sind Tausende ausgewandert, die daheim geblieben wären, wenn sie gewusst hätten, was ihrer hier wartete.» Trotz den schwierigen Bedingungen wuchs die Einwohnerzahl von Amazonia kontinuierlich an. Berichte über stetig steigende Preise für Farmen (wegen der grossen Nachfrage) und die Einweihung der neuen Kirche (die alte bot nicht mehr genügend Platz) zeugen davon. Egger und Urwyler gaben auch immer wieder Einblick in die Geschichten einzelner Siedlerfamilien. So lesen wir beispielsweise von Christian Bachmann, der 1869 im Alter von 51 Jahren mit seiner Frau und zehn Kindern vom Buchholterberg (nordöstlich von Thun) nach Amazonia zog und dort völlig mittellos ein neues Leben begann. 13 Jahre und viel harte Arbeit später war Bachmann Grossgrundbesitzer und liess verlauten: «Alles was wir besitzen, ist bezahlt und ich bin Schulden frei». Eine Erfolgsgeschichte, die nicht allen Ausgewanderten vergönnt war.
Ein Restaurant in Amazonia, um 1910.
Ein Restaurant in Amazonia, um 1910. Andrew County Museum
In späteren Jahren mehrten sich in den Berichten aus Amazonia die Todesmeldungen verstorbener Landsleute. Auch die Verfasser selbst blieben nicht von Schicksalsschlägen verschont. So berichtete Rudolf Urwyler über den Malaria-Tod seines zweijährigen Sohnes Walter im Sommer 1888 und zehn Jahre später über die tödliche Blutvergiftung seiner 25-jährigen Tochter Flora. Die Leserschaft erfuhr auch einiges über die Gepflogenheiten in der Neuen Welt. Urwyler äusserte sich mehrmals verärgert über die Sonntagsgesetze (kein Alkoholausschank, kein Tanz, kein Kartenspiel). Auch die Schwierigkeiten beim Schulwesen kamen zur Sprache. Die in den Vereinigten Staaten ausgebildeten Pädagogen hätten das Niveau eines guten Schweizer Primarschülers, liessen sie verlauten: «[…] hier in Amerika sind gute Lehrer selten, nämlich solche, die etwas wissen.» Positiver berichteten sie über Feste und Feierlichkeiten. Egger trat dabei gelegentlich als Festredner auf und der Männerchor von Amazonia erfreute die Schweizer Siedlerfamilien mit Gesang: «Rein und hell ertönten die heimatlichen Lieder und manchem alten Graubart fielen grosse Wehmutsthränen auf die Wangen, indem er sich an das schweizerische Dorfleben rückerinnerte.»
Familienfoto von Samuel und Rosina Egger mit ihren Kindern und Enkeln, Datum unbekannt.
Beschriftung des Familienfotos von Samuel und Rosina Egger mit ihren Kindern und Enkeln, Datum unbekannt.
Samuel und Rosina Egger mit ihren Kindern und Enkeln. Von ihren neun Kindern blieb die älteste Tochter in der Schweiz und eine weitere Tochter verstarb kurz nach der Geburt. Andrew County Museum
Die Briefe von Samuel Egger, den die Zeitungsredaktion unterdessen liebevoll «Papa Egger» nannte, wurden nach der Jahrhundertwende seltener. Nach einem Unfall mit einer Pferdekutsche im Jahr 1901 schien er gesundheitlich angeschlagen. Auch Rudolf Urwyler schickte immer weniger Korrespondenz aus Amazonia. Sein letzter Bericht erschien in der Zeitung vom 7. Mai 1914. Er beinhaltete auch den Nachruf auf seine Frau Albertine, die im Alter von 70 Jahren an einem Schlaganfall verstorben war. Bis heute erinnern die Grabsteine von Peter und Anna Moser, Samuel und Rosina Egger, Rudolf und Albertine Urwyler sowie unzähligen anderen Schweizer Siedlerinnen und Siedlern auf einem der Friedhöfe in Amazonia an die Berner Kolonie.

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