
Briefe aus Amazonia
Das 19. Jahrhundert gilt für die Schweiz als eigentliches «Auswanderungsjahrhundert». Über 400'000 Menschen verliessen das Land, um sich an einem anderen Ort eine Existenz aufzubauen. Briefe aus dieser Zeit geben Einblick in das Leben der Ausgewanderten.
Einer von ihnen war Peter Moser aus Wattenwil im Kanton Bern. Zusammen mit seinem Bruder Johannes brach er um 1834 in die Neue Welt auf und gelangte über Umwege in den äussersten Nordwesten von Missouri. Zu dieser Zeit war die dort ursprünglich ansässige indigene Bevölkerung bereits westwärts über den Fluss nach Kansas und Nebraska vertrieben worden. Mit dem Platte Purchase von 1836 hatten sie sich verpflichtet, in die vorbereiteten Reservate zu ziehen und ihr Land für wenig Geld an den Staat abzutreten. Dieses unrühmliche Kapitel der amerikanischen Geschichte ebnete den Siedlerinnen und Siedlern den Weg zur Erschliessung von neuem Farmland. So kaufte sich auch Peter Moser mithilfe eines günstigen Staatskredits Grund und Boden. Im Juni 1857 schloss er sich anderen Ausgewanderten unterschiedlicher Herkunft an, um gemeinsam ein grosses Grundstück in Andrew County zu erwerben. Das Land wurde in Gebäudeparzellen aufgeteilt und an weitere Neuankömmlinge verkauft. Das entstandene Städtchen erhielt den exotischen Namen Amazonia. Der Grund für diesen Namen soll ein Schiff mit dem Namen The Amazonia gewesen sein, das in der Nähe auf dem Missouri River gesunken war.
 
 Die Familie Egger hatte Amazonia im Frühling 1881 erreicht. Unter dem Titel «Aus Amerika» erschien am 18. März 1882 erstmals ein Bericht von Samuel Egger in der Zeitung Täglicher Anzeiger für Thun und das Berner Oberland. Darin beschrieb er die Lage von Amazonia wie folgt: «Obschon ziemlich nahe am Missouristrom, ist doch keine Ueberschwemmung möglich, da sich die Kolonie über denselben erhebt, fast wie der Längenberg über die Aare.»

Die Vereinigten Staaten von Amerika, Karte aus dem Jahr 1877. In Rot hervorgehoben ist der Bundesstaat Missouri.
Library of Congress

Im Nordwesten von Missouri liegt Andrew County, zu dem Amazonia gehört. Karte von 1897.
The State Historical Society of Missouri

Das Grundstück von Peter Moser liegt im Gebietsteil mit der Nummer 35.
The State Historical Society of Missouri
 
 Trotz den schwierigen Bedingungen wuchs die Einwohnerzahl von Amazonia kontinuierlich an. Berichte über stetig steigende Preise für Farmen (wegen der grossen Nachfrage) und die Einweihung der neuen Kirche (die alte bot nicht mehr genügend Platz) zeugen davon. Egger und Urwyler gaben auch immer wieder Einblick in die Geschichten einzelner Siedlerfamilien. So lesen wir beispielsweise von Christian Bachmann, der 1869 im Alter von 51 Jahren mit seiner Frau und zehn Kindern vom Buchholterberg (nordöstlich von Thun) nach Amazonia zog und dort völlig mittellos ein neues Leben begann. 13 Jahre und viel harte Arbeit später war Bachmann Grossgrundbesitzer und liess verlauten: «Alles was wir besitzen, ist bezahlt und ich bin Schulden frei». Eine Erfolgsgeschichte, die nicht allen Ausgewanderten vergönnt war.
 
 Die Leserschaft erfuhr auch einiges über die Gepflogenheiten in der Neuen Welt. Urwyler äusserte sich mehrmals verärgert über die Sonntagsgesetze (kein Alkoholausschank, kein Tanz, kein Kartenspiel). Auch die Schwierigkeiten beim Schulwesen kamen zur Sprache. Die in den Vereinigten Staaten ausgebildeten Pädagogen hätten das Niveau eines guten Schweizer Primarschülers, liessen sie verlauten: «[…] hier in Amerika sind gute Lehrer selten, nämlich solche, die etwas wissen.»
Positiver berichteten sie über Feste und Feierlichkeiten. Egger trat dabei gelegentlich als Festredner auf und der Männerchor von Amazonia erfreute die Schweizer Siedlerfamilien mit Gesang: «Rein und hell ertönten die heimatlichen Lieder und manchem alten Graubart fielen grosse Wehmutsthränen auf die Wangen, indem er sich an das schweizerische Dorfleben rückerinnerte.»


Samuel und Rosina Egger mit ihren Kindern und Enkeln. Von ihren neun Kindern blieb die älteste Tochter in der Schweiz und eine weitere Tochter verstarb kurz nach der Geburt. Andrew County Museum
 

