Renée Pellet ist eine der ganz starken Frauen der Westschweiz und hat Politikgeschichte geschrieben. Illustration von Marco Heer

Eine Pionierin aus Meyrin

Renée Pellet war die erste Westschweizer Frau, die 1960 in eine Exekutive gewählt wurde. Als stellvertretende Bürgermeisterin von Meyrin schrieb sie damit ein Stück Schweizer Politgeschichte.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Renée Châtelain, Bürgerin von Meyrin, wurde am 10. Januar 1905 geboren. Das Genfer Dorf war damals ein von der Landwirtschaft geprägter Ort mit knapp 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern und hatte nichts mit der heutigen Stadt an der Grenze zu Frankreich zu tun. Die Region hatte eine bewegte Vergangenheit hinter sich, geprägt von Konflikten zwischen Genf und Savoyen, bevor sie 1815 der Schweiz beitrat. Meyrins Weg in die «Moderne» begann 1922 mit dem Bau der ersten Flugpiste in Cointrin. Renée, damals 17 Jahre alt, wurde Zeugin dieser grossen Veränderungen. Ihre Schulausbildung hatte sie in Cointrin absolviert, wohin ihre Familie 1916 gezogen war. Der Schritt in die Politik lag da noch in weiter Ferne.
Der Flughafen Genf-Cointrin aus der Vogelperspektive. Das Bild wurde 1931 von Flugpionier Walter Mittelholzer aufgenommen.
Der Flughafen Genf-Cointrin aus der Vogelperspektive. Das Bild wurde 1931 von Flugpionier Walter Mittelholzer aufgenommen. e-pics
Renées Talent für Theater und Gesang wurde früh von ihrem Lehrer, der selbst Schüler des bekannten Musikpädagogen Jaques-Dalcroze gewesen war, erkannt. Er förderte und ermutigte sie, sich einer literarischen und musikalischen Amateurgruppe anzuschliessen. Dort erwarb die junge Genferin ihre Fähigkeiten für öffentliche Auftritte. Dieses Talent sollte ihr später auch auf dem politischen Parkett nützen. Neben Literatur und Musik absolvierte Renée Châtelain eine Ausbildung in der Uhrenbranche und arbeitet ab 1923 als Regleurin, als Verantwortliche für die Genauigkeit der Produkte, in einer Uhrenfabrik. 1932 heiratete sie Alphonse Pellet. Das Glück hielt nur kurz, einige Monate später starb Alphonse Pellet und hinterliess eine junge Witwe. Renée Pellet heiratete nie wieder und stellte sich mehr und mehr in den Dienst der Allgemeinheit. So engagierte sie sich beispielsweise während des Zweiten Weltkriegs in der passiven Luftschutzorganisation, welche die Bevölkerung vor Luftangriffen schützen sollte.
Frauen des passiven Luftschutzes während des Zweiten Weltkriegs in Vevey.
Frauen des passiven Luftschutzes während des Zweiten Weltkriegs in Vevey. Schweizerisches Nationalmuseum
1958, nach dem Ende ihrer beruflichen Tätigkeit, pflegte Renée Pellet ihre kranke Mutter und trat der Schweizerisch-Sowjetischen Gesellschaft bei. Diese Organisation förderte die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion und zog vor allem sozialistisch orientierte Personen an. Pellet stand den sozialistischen Ideen nahe und nahm 1958 trotz grossen Spannungen zwischen Ost und West an einer Kulturreise in die Sowjetunion teil. Fast gleichzeitig rückte Meyrin mit der Gründung des CERN weiter ins Zentrum der Modernisierung. Politisch war Renée Pellet schon immer gewesen, aber so richtig aktiv wurde sie erst 1960, als sie sich im Alter von 58 Jahren entschied, bei den Ergänzungswahlen im Oktober für das Amt der stellvertretenden Bürgermeisterin von Meyrin zu kandidieren. Sie trat für die parteilose Frauenbewegung von Meyrin an, gewann die Wahl und schrieb damit Geschichte. Genf hatte erst im März des gleichen Jahres das kantonale Frauenwahlrecht eingeführt. Pellet hatte sich gleich gegen zwei männliche Mitbewerber durchgesetzt und wurde so zur ersten Frau, die in der Westschweiz ein Exekutivamt bekleidete.
Artikel in der Zeitung La sentinelle zur Wahl von Renée Pellet, 3. Oktober 1960.
Artikel in der Zeitung La sentinelle zur Wahl von Renée Pellet, 3. Oktober 1960. e-newspaperarchives
Während ihrer Amtszeit widmete sich Renée Pellet Themen wie dem Strassenbau oder den öffentlichen Dienstleistungen und kümmerte sich gleichzeitig um die sozialen Belange der Gemeinde. Die Nähe zur Stadt Genf veränderte Meyrin rasend schnell. Der städtische Einfluss stieg und die Einwohnerzahl explodierte förmlich. 1963 kandidierte Renée Pellet erneut, wurde jedoch nicht mehr wiedergewählt. Einer der Hauptgründe waren die neuen Bewohnerinnen und Bewohner von Meyrin, welche keine Beziehung zur Gemeinde und ihrer Vergangenheit hatten und in der Politikerin nicht eine «Erbin von Meyrin» sahen, sondern nur eine von vielen kandidierenden Personen. Die Wahl in den Gemeinderat schaffte Pellet jedoch. Sie gehörte der Legislative von Meyrin bis 1975 an und war zwischen 1968 und 1969 sogar Vorsitzende des Rats.
Porträt von Renée Pellet, aufgenommen im Winter 1977.
Porträt von Renée Pellet, aufgenommen im Winter 1977. Gemeinde Meyrin
Renée Pellet war eine Pionierin. Als erste Frau der Westschweiz in einem Exekutivamt half sie mit, den Weg der Schweizer Frauen in die Politik zu ebnen. Bis zu ihrem Tod im Dezember 1985 setzte sich die Genferin für die soziale Gerechtigkeit ein und bis heute ist sie ein Symbol für Mut, Engagement und den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Gesellschaft geblieben.

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