Bundesverfassung von 1848.
Schweizerische Bundesverfassung von 1848, künstlerisch in Szene gesetzt vom Solothurner Maler Laurenz Lüthi. Schweizerisches Nationalmuseum

Schweizer Frauen waren lange keine Schweizer

Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, oder? Theoretisch ja, praktisch war das lange nicht der Fall. Der Weg dazu führte durch zahlreiche Gerichtssäle.

Kathrin Alder

Kathrin Alder

Kathrin Alder hat Recht studiert und arbeitet als Journalistin. Seit 2017 als Bundesgerichtskorrespondentin für die NZZ.

Man sieht sie vor sich, die Bundesrichter, wie sie die Stirn runzeln, die Augenbrauen hochziehen, ungläubig den Kopf schütteln. Immerhin versucht gerade eine Frau, die «göttliche» Ordnung umzukrempeln. Emilie Kempin-Spyri, die damals 33-jährige Nichte der «Heidi»-Autorin Johanna Spyri, will arbeiten wie die Männer. Die Mutter dreier kleiner Kinder verlangt, als Anwältin zugelassen zu werden, um ihren Mann in einem Mietstreit vertreten zu können. Doch bereits das Bezirksgericht Zürich hat der ersten promovierten Juristin der Schweiz die Zulassung verweigert. 1887 kann nur als Anwalt tätig sein, wer das Aktivbürgerrecht, das Stimm- und Wahlrecht, besitzt – also ausschliesslich Männer. Kempin-Spyri will das nicht hinnehmen. Sie zieht also weiter an das höchste eidgenössische Gericht, wo sie nicht weniger als die volle Gleichstellung von Mann und Frau einfordert. Sie verweist auf die damalige Bundesverfassung: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich». Kempin-Spyri argumentiert, Frauen seien beim Begriff «Schweizer» selbstverständlich auch gemeint – wie bei vielen anderen Verfassungsbestimmungen auch. Doch das Bundesgericht tut ihre Forderung als «ebenso neu als kühn» ab. Es bedürfe «in der That keiner weiteren Ausführung, dass man mit einer solchen Forderung sich mit allen Regeln historischer Interpretation in Widerspruch setzen würde». Rechtsgeschichte schreibt Kempin-Spyri trotzdem. Sie hat den ersten Gleichstellungsprozess der Schweiz vom Zaun gebrochen. Und sie ebnet den Weg für andere Mitstreiterinnen. Als 1923, ganze 36 Jahre später, ein gewisses «Fräulein» Dora Roeder ans Bundesgericht gelangt, um im Kanton Freiburg als Anwältin zugelassen zu werden, erhält sie recht. Freiburg war damals der letzte Kanton der Schweiz, der Frauen den Anwaltsberuf noch verweigerte. Alle anderen Kantone hatten ihre Gesetze angepasst.
Porträt von Emilie Kempin-Spyri, um 1885.
Porträt von Emilie Kempin-Spyri, um 1885. UZH Archiv

Schweizer Frauen sind keine Schweizer

Der Weg hin zur rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter ist in der Schweiz lang und beschwerlich. Das zeigt der Kampf um das Frauenstimmrecht. Meist wird er politisch geführt, mitunter aber auch vor dem Bundesgericht, das oft wenig progressiv agiert und mit seiner Rechtsprechung traditionelle Rollenbilder und Strukturen eher noch festigt. Gegenüber der Forderung nach dem Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf eidgenössischer Ebene zeigt sich das höchste Gericht des Landes lange alles andere als aufgeschlossen. Im gleichen Jahr wie Dora Roeder gelangt der Anwalt Léonard Jenni mit einer staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht. Obwohl es zumeist Frauen sind, die für mehr Rechte einstehen, werden sie dabei gelegentlich auch von Männern unterstützt. Einer davon ist Jenni. Er vertritt 26 Frauen aus der Berner Stimmrechtsbewegung, welche die Aufnahme ins Stimmregister fordern. Doch der Regierungsrat des Kantons Bern hat das Gesuch abgelehnt. Am Bundesgericht verlangt Jenni nun, den Ausdruck «Schweizer» im damaligen Artikel der Bundesverfassung, der das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten regelt, auf Frauen auszudehnen – und argumentiert dabei ähnlich wie Kempin-Spyri. Doch das Bundesgericht lehnt seine Beschwerde ab und verweist auf das Gewohnheitsrecht, welches Frauen bisher von der politischen Gleichberechtigung ausgeschlossen habe. Um dieses Recht zu ändern, bedürfe es einer Revision der Verfassung, nicht nur einer Neuinterpretation bestehender Gesetzesartikel.
Porträt von Dora Roeder aus dem Jahr 1920.
Porträt von Dora Roeder aus dem Jahr 1920. Staatsarchiv Thurgau
1928 wagt Jenni einen zweiten Versuch, dieses Mal im Namen einiger Genfer Frauen und Männer. Er scheitert erneut. 1957 gelangen 1414 Westschweizerinnen mit einer Beschwerde an das Bundesgericht. Auch sie sind der Überzeugung, der Begriff «Suisses», wie er in den kantonalen Verfassungen geschrieben steht, schliesse die Frauen nicht explizit vom Stimmrecht aus. Auch ihnen bleibt der Erfolg verwehrt. Jahre vergehen, bis die Schweizerinnen das Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer Ebene 1971 durch eine Volksabstimmung schliesslich doch noch erhalten. Und es dauert weitere zehn Jahre, bis die Gleichstellung von Mann und Frau in der Bundesverfassung verankert wird. Doch die Einführung des Frauenstimmrechts bringt neuen Schwung in den Kampf um Gleichstellung, der auch die Richter in Lausanne dazu veranlasst, einen bemerkenswerten Entscheid zu fällen. 1977 verlangt eine Neuenburger Lehrerin, für ihre Arbeit in gleicher Höhe wie ihr männlicher Kollege entlohnt zu werden. Das Bundesgericht gibt der Frau recht. Mit diesem Entscheid setzt es erstmals die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern in öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnissen durch.
Das Bundesgericht in Lausanne auf einem Bild von 1898.
Das Bundesgericht in Lausanne hatte einige Beschwerden von und für Frauen zu behandeln. Schweizerisches Nationalmuseum

Späte Kehrtwen­de

Und schliesslich sind es auch die Richter in Lausanne, die das Frauenstimmrecht in der ganzen Schweiz durchsetzen. Am 26. November 1990 heissen sie zwei staatsrechtliche Beschwerden gut – und sprechen ein Machtwort. Der Kanton Appenzell Innerrhoden, der sich bis dato erfolgreich gegen das Frauenstimmrecht gewehrt hat, muss es nun auf Geheiss aus Lausanne endlich einführen. Mit aller Deutlichkeit hält das Bundesgericht fest, dass die in der Innerrhoder Kantonsverfassung verankerten Begriffe «Landleute» und «übrige Schweizer» auch Frauen einschliessen. Zwar seien, gestützt auf die Verfassung, die Kantone selbst für ihre Wahlberechtigung zuständig, doch entbinde sie das nicht davon, «die Grundrechte, insbesondere die Gleichstellung von Mann und Frau, im Bereich der politischen Rechte zu respektieren». Die Fallbeispiele machen deutlich: Das Bundesgericht spielt im Prozess um die Gleichstellung der Geschlechter eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite verhindert es Fortschritte mit der – staatspolitisch durchaus schlüssigen – Begründung, man achte die Gewaltenteilung und könne dem Gesetzgeber und damit dem politischen Willen im Land nicht vorgreifen. Auch heute, wo nicht mehr primär die rechtliche, sondern vielmehr die tatsächliche Gleichstellung im Zentrum steht, pflegt es eine eher zurückhaltende und oft sehr formalistische Praxis, was von Teilen der Rechtslehre gerne kritisiert wird.
Erste Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden mit Frauenbeteiligung, 28. April 1991.
Erste Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden mit Frauenbeteiligung, 28. April 1991. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Sofern das gesellschaftliche und vor allem das politische Umfeld aber bereits vorgespurt haben, zeigt es sich auf der anderen Seite durchaus gewillt, dazu beizutragen, die rechtliche Stellung der Frauen zu verbessern. Denn anders als zu Zeiten von Emilie Kempin-Spyri ist die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau heute klar in der Verfassung verankert.

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