Annie Leuch-Reineck war eine der Hauptfiguren in der Schweizer Frauenbewegung der 1920er-Jahre.
Annie Leuch-Reineck war eine der Hauptfiguren in der Schweizer Frauenbewegung der 1920er-Jahre. Gosteli-Archiv

Rekord­pe­ti­ti­on in der Schublade

Die Geschichte einer Petition für das Frauenstimmrecht, die mit 250'000 Unterschriften eingereicht wurde und danach für Jahrzehnte in einer Schublade verschwand.

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Im Jahr 1928 erschien ein Buch über die Schweizer Frauenbewegung mit dem Untertitel «Ihr Werden, ihr Wirken, ihr Wollen». Die Autorin Annie Leuch-Reineck, promovierte Mathematikerin und seit Kurzem Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht, ehrte darin die Schweizer Pionierinnen, die zeitgleich mit Frauen in anderen Industrienationen das Frauenwahlrecht aufs politische Tapet gebracht hatten. In den vergangenen Jahren war ihr Anliegen vielerorts zum Durchbruch gelangt, in Deutschland und Österreich 1918, in den USA 1920, in Grossbritannien 1928. Die Entwicklung schien unaufhaltsam, auch in der Schweiz bewegte sich dank ersten kantonalen Volksabstimmungen und Motionen auf Bundesebene etwas. Doch Annie Leuch-Reineck und ihren Mitstreiterinnen ging das zu langsam. Ihren Frust äusserten sie an der Eröffnung der Frauenausstellung Saffa im August 1928, indem sie eine grosse Schnecke durch die Bundeshauptstadt zogen. Die aus der ganzen Schweiz zugereisten Frauen durften an der Saffa zwar zeigen, wie sie zum Gelingen von Staat und Wirtschaft beitrugen, doch ausgerechnet in der Politik liess man sie nicht mitreden.
Annie Leuch-Reinecks Buch über die Schweizer Frauenbewegung wurde 1928 veröffentlicht.
Annie Leuch-Reinecks Buch über die Schweizer Frauenbewegung wurde 1928 veröffentlicht. Foto: Gosteli 65
Mit einer grossangelegten Petition sollte der Bundesrat zum Umdenken gebracht werden. In einer gemeinsamen Aktion würden Frauen verschiedener sozialer Schichten und politischer Richtungen die Schweiz aufrütteln und die Bevölkerung im direkten Gespräch überzeugen. Männer, Frauen, Deutsch-, Französisch- und Italienischsprachige wurden einbezogen, in der Stadt oder auf dem Land, selbst in kleinen Dörfern. Damit wollte man zeigen: Das Frauenstimmrecht war keine Frage von rechts oder links, wie es oft dargestellt wurde. Es war keine «unschweizerische» Idee, nicht vom Ausland abgeschaut. Es war auch keine Gefahr für das Fundament der Gesellschaft oder für die Demokratie. Im Gegenteil: Es sollte sie stärken.
Eine Schnecke als Symbol für den Fortschritt des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Protestumzug durch Bern anlässlich der Saffa, 1928.
Eine Schnecke als Symbol für den Fortschritt des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Protestumzug durch Bern anlässlich der Saffa, 1928. Fotografiert von Otto Rohr. Gosteli-Archiv

Gespal­te­ne Schweiz

Ab Januar 1929 strömten unzählige Frauen und einige Männer aus, sie hielten Vorträge in Städten und Dörfern, klopften an Türen, schrieben Artikel und Leserbriefe, organisierten Aktionskomitees in den abgelegensten Gegenden und verschickten Petitionsbögen in alle Winkel des Landes. Annie Leuch-Reineck koordinierte die Aktion von Bern und Lausanne aus, wohin sie mit ihrem Mann, einem Bundesrichter, wenige Jahre zuvor gezogen war. In ihrer neuen Heimat stiess die 48-Jährige auf breite Zustimmung. Knapp 18 Prozent der volljährigen Schweizer Wohnbevölkerung unterschrieben die Petitionsbögen, in Genf über 20 Prozent und in den beiden Basel über 15 Prozent, im Kanton Neuenburg gar fast ein Viertel. Gemeinsam mit den grösseren Städten waren diese Regionen dafür verantwortlich, dass die Sammlung zu einem überwältigenden Erfolg wurde: Rund eine Viertelmillion Schweizerinnen und Schweizer gaben ihre Unterschrift, so viele wie nie zuvor bei einer Petition. Doch die Schweiz war tief gespalten. Vor allem auf dem Land war die angestrebte «gründliche Auseinandersetzung und Erwägung der Frage» des Frauenstimmrechts kaum möglich. Manchmal bereiteten Beschimpfungen der Sammlung ein Ende, wie im Berner Oberland. Oft stand der soziale Druck einem Engagement im Weg, selbst wenn man Frauen fand, die das Anliegen unterstützten. Viele fürchteten Konflikte mit Angehörigen, berichtete die Obwaldner Mundartdichterin Rosalie Küchler-Ming. Flora Volonteri Valli aus Lugano klagte, Frauen seien hier Schafe, die von Wölfen verschlungen würden. Wer sich engagiere, werde äusserst vulgär behandelt. Auch das schreckte Frauen ab, mit der Folge, dass im Tessin als einzigem Kanton mehr Männer als Frauen die Petition unterschrieben – allerdings auf sehr tiefem Niveau.
Frauen wie Annie Leuch-Reineck hatten es mit ihrem Anliegen für ein weibliches Stimmrecht schwer.
Frauen wie Annie Leuch-Reineck hatten es mit ihrem Anliegen für ein weibliches Stimmrecht schwer. Gosteli-Archiv
Die stärkste Waffe der Gegner waren Hohn und Spott. Damit konnte man jede Debatte im Keim ersticken und Frauen davon abhalten, sich zu exponieren. Selbst viele von jenen, die man habe überzeugen können, unterschrieben letztlich nicht, «weil sie sich dem Spott nicht aussetzen wollten», berichtete Küchler-Ming aus Sarnen, von wo die magerste Ausbeute der ganzen Schweiz nach Bern geschickt wurde: Sechs Stimmen von Männern kamen in den Halbkantonen Ob- und Nidwalden zusammen, 28 von Frauen.
Blick in die Petitionsdokumente von 1929. Schweizerisches Bundesarchiv
Aus dem Thurgau erreichte Annie Leuch-Reineck das lakonische Fazit: «Die Einstellung des Publikums: Frauen völlig gleichgültig, Männer spöttisch». Die Organisatorin der kantonalen Sammlung war von Anfang an skeptisch gewesen, denn wie sollte man Männer vom nationalen Frauenstimmrecht überzeugen, wenn sie den Frauen noch nicht mal die Mitbestimmung im Schul- oder Kirchenwesen zugestehen wollten? Da die Sammlung aber bereits im Gang war, setzte sie sich mit Elan dafür ein. Gesellschaftliche Ächtung fürchtete sie nicht. Die ursprünglich aus dem heutigen Georgien stammende Ludomila Scheiwiler-von Schreyder lebte zwar auf dem Land, doch sie war kein Teil der bäuerlichen Gesellschaft ihrer Umgebung. Von ihrer Villa am Rande des Weilers Dingenhart bei Frauenfeld aus koordinierte sie die Sammlung. Bald musste sie jedoch einsehen, dass sie die Leute auf dem Land nicht erreichen konnte, das Unterschriftensammeln an Haustüren erwies sich als unmöglich. Durchweg feindselig sei die Stimmung in der Ostschweiz gewesen, hält der Schlussbericht fest, teilweise gar aggressiv.

Ab in die Schublade damit!

Ausgerechnet aus diesem Teil der Schweiz stammten die fürs Dossier zuständigen Bundesräte in den folgenden Jahren. Die medienwirksame Übergabe der Petitionsbögen nach einem Umzug durch Bern beeindruckte die Landesregierung wenig und auch die Mehrheit der nationalrätlichen Petitionskommission befand, die Lösung der Frage sei «nicht dringlich». 1934 liess der Thurgauer Bundesrat Häberlin bei der Räumung seines Büros seinen Nachfolger Baumann aus Appenzell-Ausserrhoden wissen, das Material zum Frauenstimmrecht liege in der mittleren Schublade rechts seines Schreibtischs. Dort blieb es nach der Amtsübergabe liegen. Erst 30 Jahre nach der Petition kam es zur ersten Abstimmung auf nationaler Ebene. In ihr spiegelten sich die Stimmverhältnisse der Petition: die welschen Kantone Waadt, Genf und Neuenburg sagten ja, die Zentral- und Ostschweizer deutlich nein. Bei den Negativstimmen lag nun Appenzell-Innerrhoden an der Spitze: 95,1 Prozent legten ein Nein ein.
Porträt von Bundesrat Johannes Baumann.
Johannes Baumann war zwischen 1934 und 1940 Mitglied der Landesregierung. Wikimedia
Porträt von Bundesrat Heinrich Häberlin.
Heinrich Häberlin war Baumanns Vorgänger. In seiner Amtszeit wurde die Frauenstimmrechts-Petition eingereicht. Wikimedia
Dank ihrer guten Gesundheit erhielt Annie Leuch-Reineck das Stimmrecht doch noch. Als 90-Jährige durfte sie 1971 auf nationaler Ebene erstmals abstimmen. Den meisten ihrer Mitstreiterinnen von 1929 war dies nicht vergönnt. Ihnen bleibt posthum die Genugtuung, dass die Nachwelt ihr Engagement würdigt und sich der Spott und der Hohn, denen sie ausgesetzt waren, heute gegen die Männer richtet, die bis zuletzt hartnäckig gegen die politische Mitbestimmung der Frauen Sturm liefen.

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