Im Erlacherhof wurde Munition für einen möglichen Umsturz versteckt. Illustration von Marco Heer.
Im Erlacherhof wurde Munition für einen möglichen Umsturz versteckt. Illustration von Marco Heer.

Die Erlacherhof-Verschwö­rung

Aufmüpfige Patrizier, Munition im Rathaus, eine Verhaftungswelle und ein umstrittener Prozess – die Erlacherhof-Verschwörung von 1832 war ein Wendepunkt in der Geschichte des Kantons Bern.

Reto Bleuer

Reto Bleuer

Reto Bleuer ist ehrenamtlicher Mitarbeiter des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern.

Die Julirevolution von 1830, welche ihren Anfang in Frankreich nahm, erfasste bald weite Teile Europas. Das Volk lehnte sich gegen die erneute Herrschaft des Adels auf und beflügelte die liberalen Kräfte in ihrem Streben nach Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität. Der Wind der Veränderung war auch in der Eidgenossenschaft spürbar und läutete eine Phase der Erneuerung ein. In verschiedenen Landstädten strömten Tausende von Menschen zu Versammlungen und forderten neue Verfassungen.
Szene der Julirevolution in Frankreich. Lithografie von 1831.
Szene der Julirevolution in Frankreich. Lithografie von 1831. Wikimedia
Auch im Kanton Bern fand ein solcher Volkstag statt. Am 10. Januar 1831 forderten rund 1000 Männer in der Kirche von Münsingen die Einsetzung eines Verfassungsrates. Diese Versammlung zeigte Wirkung: Drei Tage später erklärte die Patrizierregierung ihren Rücktritt und gab der Münsinger Forderung nach. Ein Verfassungsrat arbeitete daraufhin eine neue, demokratische Kantonsverfassung aus, die im Juli desselben Jahres vom Volk mit grosser Mehrheit angenommen wurde. Damit war der Weg frei für die Wahlen. Diese wurden, wenig überraschend, von den Liberalen, angeführt von den Gebrüdern Schnell aus Burgdorf, klar gewonnen. Die bisher mächtigen Stadtberner Patrizier hingegen erlitten eine Niederlage. Nicht alle adeligen Herren konnten sich vorstellen, unter der neuen Verfassung die Rolle der Opposition zu spielen. So lehnten 18 gewählte Patrizier ihren Sitz im Grossen Rat ab. Zudem verweigerten rund 100 Stadtberner Offiziere und Soldaten den Eid auf die neue Verfassung und schieden aus dem Militärdienst aus.
Abstimmungsresultate für die neue Verfassung des Kantons Bern, 1831.
Die neue Verfassung für den Kanton Bern wurde 1831 klar angenommen. Staatsarchiv des Kantons Bern, Mc 1983
Die frisch gewählte Berner Regierung war jedoch entschlossen, die Neuordnung des Kantons voranzutreiben. Am 19. Mai 1832 verabschiedete der Grosse Rat ein Dekret über die Erneuerung der Gemeindebehörden. Dieses Dekret sah unter anderem die Bildung von Einwohnergemeinden vor. Das Dekret löste bei den Berner Patriziern Entsetzen aus, da ihr Einfluss und ihre Kontrolle stark beschnitten wurden. Zudem sah man das bürgerliche Vermögen in Gefahr.

Politi­sche Machtverschiebung

In den 1830er-Jahren verschob sich die Macht in den Kantonen mit einer liberalen Verfassung: von den Burger- zu den Einwohnergemeinden. Die städtischen Eliten verloren dadurch ihre Herrschaft über die Landschaft. So auch in Bern, wo im ganzen Kanton Einwohnergemeinden entstanden. Doch die alten Eliten kämpften für den Erhalt der Bürgergemeinden und deren Macht und Reichtum. Es kam zu einer Zweiteilung, welche bis heute besteht.
Der nach wie vor patrizisch dominierte Berner Stadtrat beschloss zu handeln – noch am selben Tag wurde eine Kommission eingesetzt, die «die Rechte der Stadt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen» sollte. Den Vorsitz der siebenköpfigen, mit unbeschränkter Vollmacht ausgestatteten Kommission (die «Siebner») führte Alt-Schultheiss Emanuel von Fischer. Weitere Mitglieder waren Alt-Seckelmeister Beat von Jenner, Alt-Rat Niklaus von Diesbach, Oberst Karl Tscharner, Oberleutnant Franz Hahn, Friedrich Lutz, Oberfeldarzt der Eidgenössischen Armee, und Spitalverwalter Abraham König.
Porträt von Emanuel Friedrich von Fischer, dem Kopf der Siebnerkommission.
Porträt von Emanuel Friedrich von Fischer, dem Kopf der Siebnerkommission. e-rara
Oberfeldarzt Friedrich Lutz war ein weiteres politisches Schwergewicht innerhalb der Siebner.
Oberfeldarzt Friedrich Lutz war ein weiteres politisches Schwergewicht innerhalb der Siebner. e-periodica
Doch die Kantonsregierung holte bereits zum nächsten Schlag aus: Mit Beschluss vom 25. Mai 1832 wurde die Berner Bürgerwache unter dem Kommando von Oberleutnant Hahn, einem «Siebner», entwaffnet und anschliessend aufgelöst. Die Kommission wollte dies nicht einfach hinnehmen und bereitete wenig später die Aufstellung einer neuen Bürgerwache vor. Zu diesem Zweck bestellte sie in St. Blasien im Schwarzwald 400 Gewehre und im konservativ regierten Kanton Neuenburg 22’000 Patronen. Mit der Beschaffung der Waffen wurde Karl von Lentulus beauftragt. Der 26-jährige Berner Hauptmann hatte bis 1830 in französischen Diensten gestanden, verfügte also über langjährige militärische Erfahrung und ein grosses militärisches Netzwerk. Durch die Auflösung der Schweizer Regimenter in den Niederlanden und die Entlassung der Truppen in französischen Diensten nach der Julirevolution gab es viele unbeschäftigte Soldaten. Im Sommer 1832 begann von Lentulus Versammlungen zu organisieren, bei denen aktiv für den Beitritt zur neuen Patrizier-Bürgerwache geworben wurde. Der Kanton Bern schien auf direktem Weg in einen Bürgerkrieg zu schlittern.
Die Bürgerwache von Bern, dargestellt von Daniel David Burgdorfer, 1831.
Die Bürgerwache von Bern, dargestellt von Daniel David Burgdorfer, 1831. ETH Zürich, Graphische Sammlung
Die Anwerbung von Soldaten blieb der Kantonsregierung nicht verborgen. Zu offensichtlich, teilweise sogar auf dem Wochenmarkt, betrieben die jungen Patrizier um von Lentulus ihre «Werbungsverschwörung». Prompt erliess die Regierung am 7. Juli 1832 ein Gesetz, das unter anderem «[…] Anwerbungen, Aufruhr und Ansammlung von Waffen und Kriegsvorräten […]» unter Strafe stellte. Genau in dieser Zeit wurden die bestellten Patronen in zwei getarnten Lieferungen von Neuenburg nach Bern gebracht. Als Lagerort war das städtische Rathaus, der Erlacherhof an der Junkerngasse, bestimmt worden. Die Munition lagerte nun am Sitz der Stadtregierung, verpackt in 44 Holzkisten mit irreführenden Aufschriften wie «Décorations pour le grand salon». Die Lagerung der Munition blieb kein gut gehütetes Geheimnis. Schon bald verbreiteten sich in den Gassen Berns Gerüchte über Umsturzvorbereitungen im Erlacherhof. Von einsatzbereiten Soldaten, Gewehren und Kanonen war die Rede. Dies veranlasste die Kantonsregierung Ende August zum aktiven Eingreifen. In aller Eile wurden 200 Freiwillige rekrutiert und in die Stadt Bern beordert. Weitere Truppen, ausgerüstet mit Kanonen, wurden nach Burgdorf, Biel, Thun und Interlaken verlegt. Im ganzen Kanton kam es zu Verhaftungen: Werber und Angeworbene der Patriziertruppe, fast 300 Personen, wurden inhaftiert. Auch gegen von Lentulus wurde ein Haftbefehl erlassen. Doch er konnte ins Ausland fliehen. Währenddessen wurde in der Stadt Bern eine Scharfschützenabteilung beauftragt, den Erlacherhof zu durchsuchen. Die versteckten Patronen wurden laut Bericht des verantwortlichen Offiziers in der Seitenmauer neben dem Bubenbergtor gefunden. Am 3. September 1832 wurden die Mitglieder der Siebnerkommission verhaftet. Die Anklage lautete Hochverrat.
Bild des Erlacherhofs in Bern.
Im Erlacherhof an der Junkerngasse wurde Munition für einen möglichen Umsturz versteckt. Wikimedia

Gewalten­tren­nung ausgehebelt

Was folgte, war ein langwieriger Prozess, in dem Regierungsrat und Parlament mehrfach Einfluss nahmen und so die Gewaltentrennung aushebelten. Offenbar wollte man dem Patriziat den endgültigen Todesstoss versetzen. Im Zentrum stand die Frage, ob die Siebnerkommission hinter der Soldatenanwerbung stand oder ob dies allein auf von Lentulus und seine Mitstreiter zurückging. Der provisorische Staatsanwalt Professor Karl Hepp sah keine direkte Verbindung, woraufhin das Obergericht die Siebnerkommission aus der Untersuchungshaft entliess – sehr zum Ärger der liberalen Kräfte. Kurz darauf wurde Hepp die definitive Wahl zum Staatsanwalt verweigert, und eine Spezialkommission empfahl gar die Entlassung des gesamten Obergerichts. Die Untersuchungen zogen sich über Monate hin, was der Regierung ermöglichte, das Obergericht mit regierungstreuen Personen zu besetzen. Ein erstes Urteil von 1837 wurde nicht vollstreckt, da es als zu milde galt. Erst im Dezember 1839 fällte das Obergericht endgültige Urteile: 86 Personen wurden freigesprochen, 207 erhielten Geld- oder Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren. Von der Siebnerkommission waren sechs Mitglieder verblieben. Emanuel von Fischer und Karl Tscharner wurden zu zwei Jahren Haft verurteilt, die übrigen zu einem Jahr. Für die prominenten Häftlinge wurde das Schloss Thorberg als Gefängnis hergerichtet – die Kosten für Unterkunft und Verpflegung mussten sie selbst tragen. Die Erlacherhof-Verschwörung brach den Einfluss des Patriziats im Kanton Bern endgültig und eröffnete den Weg zu einem demokratischeren politischen System. Gleichzeitig beeinflusste sie die Reformbewegungen in anderen Kantonen.

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