Die Flucht der Grafen hatte weitreichende Folgen für Irland. Illustration von Marco Heer.
Die Flucht der Grafen hatte weitreichende Folgen für Irland. Illustration von Marco Heer.

Die Flucht der Grafen durch die Schweiz

Am 14. September 1607 verliess eine Gruppe namhafter irischer Adliger die Provinz Ulster, um ins europäische Exil zu segeln. Unter ihnen waren der Graf von Tyrone Hugh O’Neill, der Graf von Tyrconnell Rory O’Donnell und der Schreiber Tadhg Óg Ó Cianáin. Ó Cianáins Reisetagebuch gibt faszinierende Einblicke in die Schweiz der Frühen Neuzeit und zeugt von den positiven Eindrücken der Exilierten auf ihrer Reise durch die Schweiz.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Webseite: worldhistory.org
Angeführt vom Grafen von Tyrone Hugh O’Neill rebellierte während des blutigen Neunjährigen Kriegs (1593–1603) ein Bündnis irischer Adliger gegen die englische Herrschaft. Trotz anfänglicher Siege und der taktischen Unterstützung Spaniens unterlagen die Aufständischen schliesslich der überlegenen Streitmacht Englands. Der Konflikt endete 1603 mit dem Vertrag von Mellifont, mit dem zwar die Unterwerfung der irischen Lords besiegelt, aber keine dauerhafte politische Stabilität hergestellt wurde. Trotz der grosszügigen Bedingungen von Jakob I. von England herrschte weiter ein tief verwurzeltes gegenseitiges Misstrauen zwischen der irischen und der englischen Krone. Aufgrund zunehmenden Drucks und Gerüchten einer erneuten Rebellion flohen der Graf von Tyrone Hugh O’Neill, der Graf von Tyrconnell Rory O’Donnell und ihre engen Verbündeten 1607 aus Irland. Die Flucht der Grafen ging als «Flight of the Earls» in die Geschichte ein. Zu den Geflüchteten gehörte auch Tadhg Óg Ó Cianáin, ein Geschichtsschreiber im Dienst O’Neills, der die Reise in einem Tagebuch auf Irisch niederschrieb.
Die Karte zeigt die von den Irinnen und Iren gewählte Route.
Die Karte zeigt die von den Irinnen und Iren gewählte Route. Wikipedia (bearbeitet)
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An einem Strand in Rathmullan (Irland) erinnert eine Bronzeskulptur an die «Flight of the Earls». Sie kehrten nie zurück und lebten für den Rest ihres Lebens im Exil.
An einem Strand in Rathmullan (Irland) erinnert eine Bronzeskulptur an die «Flight of the Earls». Sie kehrten nie zurück und lebten für den Rest ihres Lebens im Exil. Wikimedia
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Wandbild von Hugh O’Neill neben einem Pub in Kinsale (Irland), welches an seine Rolle in der verlorenen Schlacht von Kinsale im Jahr 1601 während des Neunjährigen Krieges erinnert. Die «Flight of the Earls» ist ein Ereignis, das starke Emotionen hervorruft. Über 400 Jahre später leben die Irinnen und Iren immer noch mit den Folgen dieser Flucht.
Wandbild von Hugh O’Neill neben einem Pub in Kinsale (Irland), welches an seine Rolle in der verlorenen Schlacht von Kinsale im Jahr 1601 während des Neunjährigen Krieges erinnert. Die «Flight of the Earls» ist ein Ereignis, das starke Emotionen hervorruft. Über 400 Jahre später leben die Irinnen und Iren immer noch mit den Folgen dieser Flucht. Wikimedia
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Obwohl die 99 politischen Flüchtlinge nach A Coruña in Spanien segeln wollten, gingen sie stattdessen am 4. Oktober 1607 in Quillebeuf-sur-Seine in Frankreich an Land. Nach einer kurzen Gefangenschaft durch die normannischen Machthaber erteilte Heinrich IV. von Frankreich den Exilierten die Reiseerlaubnis. Die Irinnen und Iren machten sich auf den Weg nach Leuven, wo sie vor ihrer Weiterreise nach Madrid einen kurzen Aufenthalt planten. Die Exilierten wollten die Spanier überreden, sie bei einer erneuten Kampagne gegen die Engländer in Irland militärisch zu unterstützen. Philipp III. von Spanien befürchtete jedoch, dass er mit dem Besuch der Iren die Engländer gegen sich aufbringen würde und zudem die laufenden Friedensverhandlungen zwischen seinem Schwager Albrecht VII. von Habsburg und den niederländischen Rebellen gefährden könnte.
Die Ankunft der Iren in Quillebeuf-sur-Seine, Illustration von John McCavitts «The Flight of the Earls: An Illustrated History».
Die Ankunft der Iren in Quillebeuf-sur-Seine, Illustration von John McCavitts «The Flight of the Earls: An Illustrated History». Seán Ó Brógáín
Tadhg Óg Ó Cianáin († 1610) gehörte einer angesehenen gälischen Familie aus Ulster an und diente dem Grafen von Tyrone Hugh O’Neill als Historiker und Schreiber. Die einzige erhaltene Kopie seines Reisetagebuchs, das rund 140 Seiten und 38’000 Wörter lang ist, wird in der University College Dublin aufbewahrt. Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von UCD-OFM Partnership.
Tadhg Óg Ó Cianáin († 1610) gehörte einer angesehenen gälischen Familie aus Ulster an und diente dem Grafen von Tyrone Hugh O’Neill als Historiker und Schreiber. Die einzige erhaltene Kopie seines Reisetagebuchs, das rund 140 Seiten und 38’000 Wörter lang ist, wird in der University College Dublin aufbewahrt. Abgebildet mit der freundlichen Erlaubnis von UCD-OFM Partnership. University College Dublin Archives
Nach fast 13 Wochen in Flandern reisten 35 der Exilierten – darunter Ó Cianáin und die beiden Grafen – am 28. Februar 1608 frustriert nach Mailand weiter. Sie hofften, in der Lombardei von Philipp III. einen Schutzbrief für eine sichere Durchreise nach Spanien zu erhalten. 32 Männer reisten zu Pferd, gefolgt von drei adligen Damen in einer Kutsche. Ó Cianáins Tagebuch hält fest, dass die Iren in einem schnellen Tempo von 35 bis 45 km pro Tag durch Wallonien, Lothringen und durch das Elsass reisten. Nur zwei Wochen nach der Abreise aus Leuven überquerten sie den Rhein und erreichten am 15. März 1608 Basel. Ó Cianáin und seine Mitexilierten waren zwar von der Grösse und Pracht der Stadt überrascht, als strenggläubige Katholiken fühlten sie sich in der reformierten Umgebung aber nicht wohl: «... Basel, eine herrliche, starke, alte und bemerkenswerte Stadt ... Im Herzen derselben führet eine vortreffliche Brücke, die Mittelbrücke genannt, über den Fluss ... Die es bewohnen und besetzen, dieselben sind Ketzer. Inmitten der Stadt stehet eine sehr grosse Kirche, das Basler Münster genannt, in welcher man Bilder und Gemälde Luthers, Calvins und vieler anderer böser, gottloser Schriftsteller findet … Allein dieselbe ist der Hauptzugang zum Lande der Schweizer, welches Helvetia genannt wird.»
Ansicht von Basel, um 1640.
Ansicht von Basel, um 1640. Wikimedia
Es ist eine bemerkenswerte historische Kuriosität, dass Ó Cianáin und die Grafen nicht versuchten, Basel zu umgehen, indem sie den Rhein bei Ottmarsheim überquerten und einer der Schweizer Hauptrouten des Camino Español folgend direkt nach Baden reisten, wie dies die spanischen Streitkräfte 1604 während ihres Marsches von Mailand nach Brüssel taten. Ó Cianáin und seine Mitexilierten fühlten sich erst wieder wohler, als sie durch das katholische Liestal und die ländliche Basel-Landschaft kamen. Die gepflasterte Strasse führte durch ein fruchtbares, auf beiden Seiten von Rebbergen gesäumtes Tal. Ó Cianáin merkte in seinem Tagebuch auch an, dass für jedes Pferd eine Zollgebühr erhoben wurde. Ó Cianáin empfand die ländliche Schweiz zwischen Liestal und Sursee sowohl als bezaubernd als auch der Erwähnung wert, insbesondere im Vergleich mit dem seiner Wälder beraubten Irland. Die Exilierten legten die fünf Leugen nach Sursee weiter in raschem Tempo zurück. Dabei kamen sie an der befestigten Stadt Olten an der Aare vorbei, die Ó Cianáin mit dem Rhein verwechselte, und zogen über Zofingen weiter. Am 16. März 1608 erreichten die Reisenden von Sursee kommend Luzern. Als Glaubensgenossinnen und Glaubensgenossen wurden Ó Cianáin und die Irinnen und Iren an der Kappellbrücke mit grosser Herzlichkeit begrüsst. Die Häuser von Luzern versetzten die Irinnen und Iren mit ihrer Schönheit in Entzücken, aber Ó Cianáin liess erneut an geografischer Orientierung missen und hielt auch die Reuss für den Rhein.
In Luzern ritten die Exilierten über die Kappellbrücke. Ó Cianáin merkte an: «[Wir] überquerten den Rhein bei einer sehr langen Brücke, welche über die ganze Länge hinweg mit einem vortrefflichen Dach versehen war ...»
In Luzern ritten die Exilierten über die Kappellbrücke. Ó Cianáin merkte an: «[Wir] überquerten den Rhein bei einer sehr langen Brücke, welche über die ganze Länge hinweg mit einem vortrefflichen Dach versehen war ...» Wikimedia
Da es im 17. Jahrhundert noch keine Strasse um den Vierwaldstättersee gab, mussten die Irinnen und Iren den See mit einem der Fährboote überqueren, die seit dem 12. Jahrhundert auf dem Vierwaldstättersee schifften. Sie hatten bei ihrer Überfahrt anscheinend Glück, denn in den Aufzeichnungen von Ó Cianáin steht nichts von schlechtem Wetter, das sie an ihrer Überfahrt gehindert hätte. Laut Ó Cianáins Tagebuch kamen sie gegen Mitternacht in Flüelen an. Die Irinnen und Iren reisten mit einer aufreibenden Geschwindigkeit und hatten seit ihrer Ankunft in der Schweiz in drei Tagen über 160 km zurückgelegt. Am 17. März 1608 machten sich die Irinnen und Iren auf den Weg zum Gotthardpass. Der Tag fiel mit dem St.-Patricks-Tag zusammen, einem Feiertag, der traditionell mit grossem Prunk und Festlichkeiten gefeiert wurde. Er brachte ihnen bei der Querung der Teufelsbrücke aber kein Glück. Die winterlichen Bedingungen führten dazu, dass eines von O’Neills Pferden ausrutschte und in die Schöllenenschlucht fiel, was einen grossen finanziellen Verlust zur Folge hatte: «Eines der Pferde O’Neills, welches einen Teil seines Geldes, etwa 125 Pfund, trug, stürzte von der hohen, gefrornen und verschneiten Klippe, welche vor der Brücke lag. Grosse Mühe ward angewendet, allein das Pferd wieder hinaufzubringen ... Am folgenden Tage zog der Graf [O’Donnell] über die Alpen weiter. O’Neill aber verweilte ... Er sandte einige seiner Leute aus, abermals nach dem Geld zu suchen. Obgleich sie grosse Mühsal erduldeten, blieben ihre Anstrengungen vergeblich ...»
Die Szene in der Schöllenenschlucht könnte wie hier abgebildet ausgesehen haben. Auf den heutigen Wert umgerechnet verloren die irischen Exilierten über 32’000 Pfund.
Die Szene in der Schöllenenschlucht könnte wie hier abgebildet ausgesehen haben. Auf den heutigen Wert umgerechnet verloren die irischen Exilierten über 32’000 Pfund. Wikimedia
Die niedergeschlagenen Irinnen und Iren liessen sich von den Ereignissen des Vortages nicht abschrecken und überquerten den Gotthardpass am 18. März 1608 gemeinsam mithilfe starker Ochsen und grosser Schlitten für den Transport ihrer Vorräte. Sie liessen Airolo links liegen und verbrachten die Nacht in Faido. Die nächsten zwei Tage reisten sie durch das Tessin. Die Strasse führte durch ein fruchtbares Tal mit Rebbergen, Getreide und Obstgärten, die viel Bewunderung auslösten. Die drei Burgen von Bellinzona faszinierten die Exilierten ebenfalls, aber sie eilten daran vorbei, dem unebenen, steinigen Weg über den Monte Ceneri nach Lugano folgend. Von dort überquerten sie den Luganersee bis Capolago mit dem Boot. Obwohl die Irinnen und Iren die Schweiz in nur einer Woche durchquert hatten, geht aus dem Tagebuch von Ó Cianáin klar hervor, dass die Exilierten abgesehen von den schlechten Strassen stark von den Besonderheiten der alten Eidgenossenschaft beeindruckt waren:

[Wir] hatten sechsund­vier­zig Leugen durch das Land der Schweizer zurück­ge­legt … Dasselbe war stark, wohlbe­fes­tigt, uneben, gebirgig und weitläu­fig, [gleich­wohl] mit schlech­ten Wegen versehen …»

Anders als das ländliche Irland, das von bruderkriegerischen Auseinandersetzungen und ausländischen Invasionen entzweigerissen war, musste die Schweiz den Irinnen und Iren als ein landwirtschaftliches Land des Überflusses erscheinen, gesäumt von prächtigen Städten und bevölkert von Leuten, die ein atypisches, aber effizientes Regierungssystem teilten. Der Umstand, dass Katholiken und Reformierte nicht nur ohne böse Absicht zusammenarbeiteten, sondern auch nach politischer Verständigung trachteten, hinterliess bei Ó Cianáin einen unauslöschlichen Eindruck: «... An und für sich bilden sie einen seltsamen, bemerkenswerten und eigentümlichen Staat. Jedes Jahr wählen sie ein System zur Regierung des Landes ... Die Hälfte von ihnen sind Katholiken, die andere Hälfte Ketzer, und durch Übereinkunft und hohe Eide sind sie einander verbunden zu gegenseitigem Schutze und zur Verteidigung gegen jeden Nachbarn in der Welt, der sich bemühen sollte, ihnen zu schaden oder sich ihnen entgegenzustellen, indem sie das öffentliche Wohl mit Mässigung und Angemessenheit aufrecht erhalten ...»
In der Nähe der Kolumbankirche in Andermatt erinnert ein Gedenkstein an die Irinnen und Iren, die durch die Schweiz reisten.
In der Nähe der Kolumbankirche in Andermatt erinnert ein Gedenkstein an die Irinnen und Iren, die durch die Schweiz reisten.
In der Nähe der Kolumbankirche in Andermatt erinnert ein Gedenkstein an die Irinnen und Iren, die durch die Schweiz reisten. kirchen-online.org
Ó Cianáin schloss seine Tagebucheinträge über die Schweiz mit einem lobenden Vermerk, in dem er die Redlichkeit, die Loyalität und den kriegerischen Mut der Schweizer hervorhob. «Man sagt von den Leuten dieses Landes, dass sie die gerechtesten, ehrbarsten und aufrichtigsten in der Welt seien und am treusten ihren Versprechen anhingen. Sie dulden weder Raub noch Mord in ihrem Lande, ohne sogleich Strafe darüber zu bringen. Aufgrund ihrer vollkommenen Ehre sind sie allein die Wächter der katholischen Könige und Fürsten Christi.» Bei ihrer Ankunft in Mailand erfuhren Ó Cianáin und seine Lehnsherren, dass sie immer noch keinen Reiseschutzbrief von Spanien erhalten hatten. Nach mehreren Wochen in der Lombardei reisten sie nach Rom weiter, das sie am 29. April 1608 erreichten. Das warme Klima machte die Irinnen und Iren krank und viele von ihnen starben an Malaria: O’Donnell wurde drei Monate nach seiner Ankunft von einem Fieber dahingerafft; Ó Cianáin selber starb 1610 an schwacher Gesundheit. O’Neill plante wiederholt seine Rückkehr nach Irland, um sein Land wieder in Besitz zu nehmen, aber er starb 1616, bevor er seine Pläne verwirklichen konnte. Papst Paul V. gewährte den überlebenden irischen Adligen, die an Krankheiten litten und Mühe hatten, eine angemessene Unterkunft zu finden, widerwillig eine dürftige Pension. Die irischen Exilierten ersuchten weiter die politische und materielle Hilfe der Spanier, die ihnen aber nie gewährt wurde.
Ausschnitt eines Freskos im Vatikan, auf dem der Graf von Tyrone Hugh O’Neill (links) und der Graf von Tyrconnell Rory O’Donnell (rechts) abgebildet sind. Gemalt um 1610 von Giovanni Battista Ricci.
Ausschnitt eines Freskos im Vatikan, auf dem der Graf von Tyrone Hugh O’Neill (links) und der Graf von Tyrconnell Rory O’Donnell (rechts) abgebildet sind. Gemalt um 1610 von Giovanni Battista Ricci. Wikimedia
Das Exil der ulsterschen Oberschicht war ein Wendepunkt für die irische Geschichte und markierte das Ende der alten gälischen Ordnung. Die Flucht führte zu einer Neuordnung des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gefüges Irlands, die bis heute spürbar ist. England konfiszierte 1608 das Land der abwesenden Grafen und 1609 begannen protestantische Siedlerinnen und Siedler aus England und Schottland, es als Teil der Plantation of Ulster zu kolonialisieren. Das Kolonialprojekt legte den Grundstein für die ethnischen und religiösen Spaltungen, die in Nordirland über Jahrhunderte andauerten. Ó Cianáins Tagebuch bietet einen fesselnden Einblick in die langwährenden Beziehungen zwischen der Schweiz und Irland, zeigt ihre frühneuzeitlichen Verbindungen auf und regt zu einem erneuten Interesse an der freundschaftlichen gemeinsamen Vergangenheit an. Von 1500 bis 1800 zog Kontinentaleuropa tausende von irischen Studierenden, Geistlichen, Soldaten und Händlern an, von denen viele in die Schweiz kamen, um zu studieren, zu arbeiten und ihren Glauben zu praktizieren. Ihre Erlebnisse stellen ein reiches historisches Erbe dar, das noch darauf wartet, erforscht und gewürdigt zu werden.

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