Edouard Kaisers Le Vieil Horloger vereinigt realistische Elemente mit der idealisierten Vorstellung einer heilen (Handwerker-) Welt.
Edouard Kaisers «L'Horloger» vereinigt realistische Elemente mit der idealisierten Vorstellung einer heilen (Handwerker-) Welt. Musée des Beaux-arts, La Chaux-de-Fonds

Ein Uhrmacher fällt aus der Zeit

Edouard Kaiser aus La Chaux-de-Fonds stammte aus einer Uhrmacherfamilie und widmete einen Teil seines malerischen Werks einer Handwerkskunst im Umbruch.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Der alte Uhrmacher auf dem Gemälde von Edouard Kaiser ist ganz in seine Arbeit versunken. Seine Ruhe und Konzentration wirken geradezu ansteckend. Solche Genreszenen aus der Welt des Handwerks, wie sie der jurassische Maler Kaiser (1855-1931) mit dem «L'Horloger» schuf, waren in der Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beliebt. Es ist kein Zufall, dass auch der junge Ferdinand Hodler 1879 die Ansicht einer Uhrmacherwerkstatt gemalt hatte. Hodlers Interesse galt aber weniger der kniffligen Tätigkeit als einem atmosphärischen Gesamteindruck und dem Ausblick auf die Stadtlandschaft in Madrid. Er weilte damals dort und war bei dem Schweizer Uhrmachermeister Charles Abet untergekommen.
Hodlers Uhrmacherwerkstätte in Madrid, gemalt im Jahr 1879.
Hodlers «Uhrmacherwerkstätte in Madrid», gemalt im Jahr 1879. Gottfried Keller-Stiftung / Bundesamt für Kultur
Das auffällige Interesse am Handwerk fällt nicht von ungefähr in eine Zeit der rasanten Industrialisierung, die kleine Handwerksbetriebe bedrohte. Zwar hatten die Maler in den Jahrhunderten zuvor das Sujet keinesfalls ausgeklammert. Wer aufmerksam durch Museen geht, begegnet ihm auch in älteren Kunstwerken. Doch meist ist es nur Beiwerk. Eher eine Ausnahme ist der heilige Joseph als Zimmermann, der üblicherweise am Rande von christlichen Verkündigungsszenen auftritt. Wenn ihn ein Maler wie Georges de La Tour im 17. Jahrhundert doch einmal ins Zentrum rückt, rüttelt dies an der Konvention.

Der Vergleich weist auf eine wichtige Verschiebung des Fokus hin. Während bei de la Tour die mystisch aufgeladene Atmosphäre im Vordergrund steht, ist es bei Kaiser die akribische Dokumentation der Tätigkeit. Alles in seiner Komposition ist darauf angelegt, dass wir diesem in Würde gealterten Handwerker sehr genau auf die Finger schauen, auch wenn wir ohne Spezialwissen zur Uhrenproduktion rasch überfordert sind. Wird hier gerade gefeilt, punziert, graviert?
«Joseph, der Zimmermann» bei der Arbeit. In Szene gesetzt hat ihn Georges de La Tour 1642.
«Joseph, der Zimmermann» bei der Arbeit. In Szene gesetzt hat ihn Georges de La Tour 1642. Wikimedia / Louvre Museum
Die vielen Details lassen unseren Blick auch rasch umherschweifen. Denn mindestens so interessant wie das geheimnisvolle Wirken des Uhrmachers sind seine Utensilien. Wozu dienen die verschiedenen Werkzeuge hinten an der Wand? Was verbirgt sich wohl in den Schächtelchen und Schublädchen? Wir sehen zwar nicht gerade das Räderwerk der Uhr, aber das Räderwerk einer Welt, in der alles geordnet ist, alles seinen Zweck hat, alles stimmt. Der hübsch dekorierte Ofen verstärkt den heimeligen Gesamteindruck und sorgt sogar visuell für Wärme, gerade im Kontrast zur verschneiten Landschaft, die der Blick aus dem Fenster, mit dem für optimalen Lichteinfall zur Seite gerafften Vorhang erahnen lässt.
Je länger der Blick auf dem Bild ruht, desto mehr breitet sich das Gefühl einer idealen Momentaufnahme aus. Die realistischen Elemente werden quasi von der Wärme des Ofens umhüllt.
Je länger der Blick auf dem Bild ruht, desto mehr breitet sich das Gefühl einer idealisierten Momentaufnahme aus. Dazu trägt auch der Ofen bei, der Gemütlichkeit ausstrahlt. Foto: SIK, Zürich
Doch Kaisers malerische Kniffe, die ihm auch die Wertschätzung eines Albert Anker eintrugen, verbergen mehr, als sie zeigen. Denn die hier von ihm vorgeführte heile Welt, die selbstgenügsame Handwerksidylle, war zu seiner Zeit ein Auslaufmodell. Die seit dem 17. Jahrhundert nach der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich vor allem in Genf ansässige Branche war am Ende des 19. Jahrhunderts bereits hoch differenziert und von heftigen Umbrüchen geprägt.

Die Uhrenherstellung, die zunächst als Heimarbeit in die ärmlichen Juragegenden mit ihren Bauern auf Suche nach Broterwerb ausgelagert worden war, wurde immer mehr von quasi-industriellen Manufakturen geprägt. Die damit verbundene Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, der wachsende Druck durch Akkordarbeit führte schliesslich zu Aufständen der Arbeiterschaft.

Kleine Werkstätten wurden meist auf wenig einträgliche Reparaturdienstleistungen reduziert. Am Ende des Jahrhunderts geriet zudem die Vormachtstellung, die sich die Schweizer Uhrenindustrie um 1870 auf dem Weltmarkt erobert hatte, durch die neue amerikanische Konkurrenz heftig unter Druck.
Die jurassische Uhrenindustrie erhielt in den 1870er-Jahren Konkurrenz aus Amerika, beispielsweise durch die American Watch Company aus Massachusetts.
Die jurassische Uhrenindustrie erhielt in den 1870er-Jahren Konkurrenz aus Amerika, beispielsweise durch die American Watch Company aus Massachusetts. Wikimedia / Library of Congress
Von diesem soziohistorischen Zusammenhang und den kritischen Fragen dazu erzählt das Gemälde nichts. Das ist umso erstaunlicher, als Edouard Kaiser die Veränderungen der Branche bestens aus eigener Anschauung kannte. Denn bevor er sich der Malerei zuwendete, war er wie sein Vater Graveur gewesen. In einem Gemälde von 1892 hält er die Mühsal dieser Arbeit fest. Nur schon der verhärmte Gesichtsausdruck der Frau am Drehstock spricht Bände ...
Graveurwerkstatt, gemalt von Edouard Kaiser, 1892.
Graveurwerkstatt, gemalt von Edouard Kaiser, 1892. Kunstsammlungen des Bundes
Auch sein 1893 entstandenes Gemälde «Atelier de boîtiers» vermittelt einen besseren Eindruck von den wirtschaftlichen Realitäten. Hier zeigt Kaiser eine schon teilweise mechanisierte und arbeitsteilig organisierte Werkstatt, in der Uhrengehäuse produziert werden.

Auf der Pariser Weltausstellung 1900 feierte Kaiser mit diesem Gemälde einen grossen Erfolg: Es wird in der internationalen Kunstschau mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Anders als ebenfalls ausgestellte (und nicht prämierte) Werke von Ferdinand Hodler oder Cuno Amiet wird es sogar im offiziellen Ausstellungskatalog abgebildet.
Kaisers Werk Atelier de boîtiers wurde an der Weltausstellung von 1900 in Paris mit einer Silbermedaille ausgezeichnet.
Kaisers Werk «Atelier de boîtiers» wurde an der Weltausstellung von 1900 in Paris mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Foto: SIK-ISEA, Zürich
In einem Umfeld, in dem etliche Maler mit Nymphen und Faunen immer noch die schwülen Träume der Spätromantik weiterträumten oder einem schalen Symbolismus huldigten, traf Kaiser einen Nerv. Schliesslich wurde das Industriezeitalter an der Weltausstellung gefeiert und hielt allmählich auch als Thema in der Kunst Einzug.

Weniger Berührungsängste hatten die zeitgenössischen Fotografen. Gerade im Zusammenhang mit ausgesprochen realistischen Gemälden wie dem «L'Horloger» stellt sich daher die Frage nach dem Verhältnis zur Fotografie.

Kaiser ist hier für eine Pointe gut. Sein «Alter Uhrmacher» ist wohl weitgehend eine malerisch in Farbe umgesetzte Fotografie. Das Gemälde ähnelt bis in Details einer Szene, die der berühmte Genfer Fotograf Fred Boissonnas um 1890 fotografiert hat. Boissonnas vertrieb seine Fotografien gewerbsmässig, sie waren verbreitet.
Diesen Uhrmacher kennen wir doch! Fotografie von Fred Boissonnas, um 1890.
Diesen Uhrmacher kennen wir doch! Fotografie von Fred Boissonnas, um 1890. Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève
Dass Kaiser seine Vorlage sehr genau auswählte, belegt eine weitere, ziemlich ähnliche Aufnahme einer Uhrmacherwerkstatt von Boissonnas. Ein Junge im Arbeitskittel weist auf die damals noch verbreitete Kinderarbeit hin. Es ist genau diese bittere Realität, die Kaiser im «Alten Uhrmacher» ausspart. Es geht ihm hier ausdrücklich nicht um eine Milieustudie mit kritischem Unterton.

Kaisers medialer Transfer einer Fotografie weist auf seine Klientel hin: bürgerliche Kreise, in deren Wertehorizont ein Gemälde einen höheren Rang einnahm als eine Fotografie. Fotografien wurden an der Weltausstellung 1900 in Paris noch zusammen mit anderem Handwerk ausgestellt, nicht in der Kunstschau.
Boissonnas Blick in eine Gravurwerkstatt des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Boissonnas Blick in eine Gravurwerkstatt des beginnenden 20. Jahrhunderts. Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève
Für ein bürgerliches Interieur wären Fotografien wie die von Boissonnas als Wandschmuck nicht infrage gekommen. Malerisch gekonnte Genreszenen wie jene von Kaiser, die sich bis 2022 in Privatbesitz befand, hingegen schon. Denn sie boten die Detailgenauigkeit der Fotografie nicht nur in Farbe, sondern luden sie noch dazu mit dem kulturhistorischen Mehrwert der Malerei auf. Für die Schicht, die sich Gemälde wie jenes von Kaiser leisten konnten, schufen sie die erwünschte Distanz zu den unfreundlicheren Realitäten einer Gesellschaft im Umbruch. Ein ästhetisch verklärender Ausschnitt aus dieser Welt wurde zum wohltuenden Andachtsbild. Kaiser bedient hier die biedermeierliche Sehnsucht, das anstrengende Tempo der Moderne herunterzubremsen, und sei es für den Moment der Bildbetrachtung.

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