Die Post liest mit. Ab dem 20. Jahrhundert suchte sie vor allem Botschaften, die mit geheimer Tinte geschrieben wurden. Illustration von Marco Heer.
Die Post liest mit. Ab dem 20. Jahrhundert suchte sie vor allem Botschaften, die mit geheimer Tinte geschrieben wurden. Illustration von Marco Heer.

Spuren der Zensur

In Zeiten politischer Unruhen – besonders während der beiden Weltkriege – geriet nicht nur der militärische, sondern auch der private Briefverkehr ins Visier staatlicher Zensurbehörden. Deren Zensur war alles andere als heimlich: Sie hinterliess absichtlich Spuren.

Nadja Ackermann

Nadja Ackermann

Nadja Ackermann ist als wissenschaftliche Archivarin für die Firmenarchive in der Burgerbibliothek Bern zuständig.

In der Schweiz ist das Postgeheimnis durch den Artikel 13 der Bundesverfassung, welcher die Privatsphäre schützt, gewährleistet. Das heisst, dass der Post anvertraute, verschlossene Gegenstände weder geöffnet noch ihrem Inhalt auf irgendeine Weise nachgeforscht werden darf. Ebenso darf über den Postverkehr einzelner Personen keine Mitteilung gemacht werden. Dieses Grundrecht kann nur eingeschränkt werden, wenn die Polizei oder ein Gericht im Rahmen einer Strafverfolgung oder im Verdacht auf eine geplante Straftat anordnet, dass die Sendungen zur Verhinderung eines Verbrechens geöffnet werden. Sendungen mit beschimpfendem oder unsittlichen Inhalt sowie Sendungen, die zu Straftaten auffordern, sind jedoch von vorneherein von der Beförderung ausgeschlossen.
Gerade letzter Punkt wurde während des Ersten Weltkrieges wichtig: Um im bewaffneten Konflikt die Neutralität aufrechterhalten zu können, wurde das Postpersonal wiederholt darauf hingewiesen, «offene Schimpfbriefe oder geschlossene Briefe mit beleidigenden Adresszusätzen an Monarchen und Staatsmännern der im Kriege stehenden Ländern» aus dem Verkehr zu ziehen. Dies galt auch für grundrechtswidrige Presseerzeugnisse.
Die Schweizer Post hatte während des Ersten Weltkriegs alle Hände voll zu tun. Auch wegen der Zensur.
Die Schweizer Post hatte während des Ersten Weltkriegs alle Hände voll zu tun. Auch wegen der Zensur. Schweizerisches Nationalmuseum
Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Zweiten Weltkriegs stand ebenfalls die Schweizer Neutralität im Fokus. Ab 1938 wurde das Postpersonal wiederholt angehalten staatsgefährdendes Propagandamaterial von der Beförderung auszuschliessen. Ab Kriegsausbruch konnte das Militär oder die Polizei zudem bei jenen Personen eine Überwachung des Briefs-, Telegramm- und Telefonverkehrs anordnen, die im Verdacht standen, «eine der Pflichten zum Schutze der Landessicherheit verletzen zu wollen oder bereits verletzt zu haben».  Dabei wurde aber nicht spezifiziert, welche Methoden eine Briefzensur umfasste. Eine allgemeine Zensur konnte ausserdem nur für militärische wichtige Gebiete durch den Bundesrat angeordnet werden.
Auch wenn die offiziell der Neutralität verpflichtete Schweiz ihre Bürgerinnen und Bürger nicht systematisch überwachte, waren Briefe, die das Land verliessen oder erreichten, keineswegs vor der ausländischen Zensur sicher. Während den beiden Weltkriegen überwachten Zensurbehörden der kriegsführenden Mächte neben dem militärischen auch private Briefwechsel. Dies geschah durchaus nicht im Geheimen: Geöffnete Couverts wurden grob mit Klebeband wieder verschlossen und mit Stempeln der Zensurstellen versehen. All das war Teil einer bewussten Strategie. Die Botschaft war klar: «Wir lesen mit.» Ebensolche wie weitere Zensurspuren weisen auch die Briefwechsel der Bernerin Helene von Wild (1889–1970) auf.
Zensurierte Brief von 1944.
Von deutschen Zensoren geprüfter Brief von 1944.
Von der Zensur markierte Briefumschläge. Burgerbibliothek Bern

Ein Leben zwischen Bern und Barcelona

Helene wurde 1889 als Tochter des Pfarrers Emil Güder und dessen Frau Emma in Aarwangen (BE) geboren. 1910 heiratete sie den Ingenieur Ernst von Wild (1874-1961), der für eine spanische Elektrogesellschaft tätig war, und zog zu ihm nach Barcelona. Dort wurden zwischen 1913 und 1917 die drei Kinder – Ruth, Rudolf und Leni – geboren, welche die dortige Schweizer Schule besuchten. Das Familienglück erlebte eine jähe Zäsur, als 1936, der spanische Bürgerkrieg ausbrach. Die Familie entschied sich, vorübergehend zu Helenes Eltern in die Schweiz zu ziehen. Von dort aus suchten sie so gut wie möglich, sich für die kriegsleidende Bevölkerung unter anderem durch den Versand von Nahrungsmitteln einzusetzen. Nach Ende des Krieges erwog die Familie eine Rückkehr nach Barcelona, doch hatten sich die Verhältnisse dort so verändert, dass Ernst nach dreieinhalb Jahren 1942 «Vorsondierungen» zu seiner Familie nach Steffisburg zurückkehrte und die Familie definitiv in der Schweiz blieb.
Helene von Wild am Schreiben in Barcelona, circa 1920.
Helene von Wild am Schreiben in Barcelona, circa 1920. Burgerbibliothek Bern

Keine Tinten­k­l­ek­se

Der jahrelang aufgebaute Kontakt zu Barcelona brach aber nicht einfach ab. Gerade in den schwierigen Kriegsjahren, korrespondierte das Ehepaar von Wild mit Bekannten in Barcelona. Dieser internationale Briefverkehr, der durch Deutschland und Frankreich verlief, war den Behörden offenbar suspekt. So weisen nicht wenige der Briefe, die Helene von Wild zwischen 1939 und 1945 mit Bekannten aus Barcelona austauschte, farblose sowie blaue Striche quer über den Briefbogen auf. Was zunächst nach Tintenschmierereien aussieht, irritiert spätestens ab dem dritten Brief. In der Tat waren diese «Sudeleien» nicht Helenes Werk, sondern jenes der deutschen Postbehörde, wurden doch die Briefe zwischen Spanien und der Schweiz in der deutschen Zensurstelle in München bearbeitet.
Konkret handelte es sich bei den Streifen um eine Art der chemischen Briefzensur. Mittels Lösungen sollten möglicherweise vorhandene Geheimbotschaften sichtbar gemacht werden. Bei der blauen Farbe standen wohl Botschaften im Fokus, die mit einer Wirksubstanz zur Lösung von Tinte geschriebenen worden waren. Seit den 1930er-Jahren waren nämlich die ersten industriell hergestellten Tintenentferner auf dem Markt. Die Behörden befürchteten, dass mit diesen geheime Nachrichten geschrieben werden könnten. Um einen Brief, ein Briefumschlag oder eine Postkarte zu überprüfen, wurde das Schriftstück mit blauen oder braunen Streifen aus Aquarellfarben von einer oberen Ecke in die unteren Ecke quer überzogen und nachfolgend vermutlich in ultraviolettem Licht auf Geheimtinten (Latentschrift) geprüft. Ein allenfalls so geschriebener Text wäre in diesem Fall als Profilbild sichtbar geworden.
Die Spuren der chemischen Zensur sind auf diesem Brief von 1942 gut sichtbar.
Die Spuren der chemischen Zensur sind auf diesem Brief von 1942 gut sichtbar. Burgerbibliothek Bern

Es riecht nach Zensur

Die chemische Briefzensur hatte keineswegs erst mit dem Zweiten Weltkriegen eingesetzt. Spuren von ähnlichen Verfahren, allerdings weit weniger ausgereift, finden sich bereits auf Helene von Wilds Briefen aus den Jahren 1917 und 1918. Geschrieben in Barcelona, waren sie an ihre Mutter in Aarwangen gerichtet. Die Briefe wurden von der spanischen Zensurbehörde auf geheime Mitteilungen abgesucht – was die Stempel auf den teilweise vorhandenen Couverts bestätigen. Zwar war Spanien im Ersten Weltkrieg offiziell neutral, doch im Innern brodelte es: Im Sommer 1917 kam es zu einem von Sozialisten und Anarchisten organisierten Generalstreik in Barcelona. Davon aufgeschreckt, begannen die Behörden mit der Briefüberwachung, vor allem bei grenzüberschreitenden Briefwechseln wie jenem von Helene von Wild.

Manche ihrer Briefe aus dieser Zeit verströmen bis heute einen stechenden Geruch, andere zeigen salzartige Ausblühungen. Weitere Dokumente scheinen wiederum gar komplett «imprägniert» worden zu sein. Die Auftragungsmuster der Lösungen gleichen jenen späterer Jahre, auch wenn die Geheimtinten rudimentärer war: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden geheime Botschaften etwa mit Salzlösungen geschrieben, die mit Wärme wieder sichtbar gemacht werden konnten. Oder man griff in den Medizinschrank, um aus Aspirin und Wasser eine Geheimtinte herzustellen. Diese kamen beim Auftragen einer Lösung bestehend aus Alkohol, Wasser, Kaliumnitrat, Essigsäure und Tetrachlorkohlenstoff wieder zum Vorschein. Möglicherweise waren auch Helenes Briefe mit einer Lösung dieser Art überprüft worden, was die salzartigen Ausblühungen verursacht haben könnte.
Brief von Helen von Wild aus der Zeit des Ersten Weltkriegs.
Brief aus der Zeit des Ersten Weltkriegs mit Spuren einer chemischen Postkontrolle. Burgerbibliothek Bern
Ob im Ersten oder Zweiten Weltkrieg – die Zensur hinterliess nicht nur optische und chemische Spuren, sondern auch systematische Codes: Buchstaben- und Zahlenkombinationen auf Couverts, Briefen und sogar Fotografien. Diese sichtbaren Zeichen der Zensur dürfte viele Schreibende zur Selbstzensur bewegt haben: Besser nichts schreiben, was nicht entdeckt werden sollte.

Familienarchiv von Wild

Die Zensur von privaten Postsendungen ist im Familienarchiv der Familie von Wild bestens dokumentiert. Die kontrollierten Briefe sind mehr als familiäre Zeugnisse. Sie veranschaulichen eine Form der Zensur, die tief in die private Kommunikation eingriff. Die Burgerbibliothek Bern hat das Archiv der Familie erschlossen und via Katalog zugänglich gemacht.

Weitere Beiträge