Einsiedeln, Kloster – Das usserwelte Volk Gottes im Zentrum der Welt, nämlich wir
Kann man die Rigi zur «Königin der Berge» erklären und als Zentrum des Erdkreises festlegen wie weiland den Tempelberg in Jerusalem? Kann man ferner das Umfeld der Rigi, die acht alten Orte der Eidgenossenschaft, als Mittelpunkt der Welt verstehen und konkret auf einer Karte darstellen? Man kann. Dafür muss man aber gute Gründe haben. Einer hatte sie, im Jahre 1479: der Dekan des Klosters Einsiedeln, Albrecht von Bonstetten.
Man sagt es, aus Respekt, nur ungern: Im 15. Jahrhundert war das renommierte Kloster Einsiedeln in einem erbärmlichen Zustand. Das hatte damit zu tun, dass nur Adelige aufgenommen wurden. Einsiedeln war ein freiherrliches Stift, nach Albrecht von Bonstetten «ain spital umb zuoflucht der fursten, graven, freyherren und hernsgenossen kinder». Solche Zuflucht begehrten zu Bonstettens Zeiten nur noch drei: der Abt, er selber als Dekan und ein Mitbruder. Am Vorabend der Reformation sank die Zahl der Mönche um ein Drittel. Das Stift zählte jetzt nicht mehr drei, sondern nur noch zwei adelige Mönche.
In jähem Gegensatz dazu standen zwei Sachverhalte. Da war zum einen die gleichzeitig blühende Volksfrömmigkeit. Im Jahr 1466 sollen rund 130‘000 Pilger nach Einsiedeln gezogen sein, um das Fest der Engelweihe zu feiern. Selbst wenn nur ein kleiner Bruchteil davon die Reise auch tatsächlich unternahm, sorgte das im Klosterdorf für unbeschreibliche Zustände. Einsiedeln war ein Wallfahrtsort von europäischer Bedeutung. Zum andern blieb das Kloster dank Bonstetten eine intellektuelle Hochburg und ein Informationszentrum mit europaweiter Ausstrahlung. Über hundert Briefe des gelehrten Humanisten an erste Adressen sind erhalten geblieben. Bonstetten tauschte sich aus mit Erzherzog Sigismund von Tirol (1427–1496) und König Ludwig XI. von Frankreich (1423–1483). Seinen Bericht über den Besuch bei Bruder Klaus, den er am Silvester 1478 im Ranft besuchte, schickte Bonstetten dem Herzog von Mailand, dem Dogen von Venedig und an den französischen Hof, nach Nürnberg und Nördlingen, dazu dem Abt von St. Gallen. Bürgermeister und Räte der löblichen Stadt Nürnberg nannte er «mine besundern lieben herren und guoten fruenden». Kaiser Friedrich III. (1415–1493) und König Maximilian I. (1459–1519) verliehen dem Einsiedler Dekan Ehrentitel, mit denen sich dieser gern schmückte. «Ich Albrecht von Bonstetten dechan des stiffts zun Einsideln und der heiligen pfallentz von Lateranentz und des keÿserlichen sales pfaltzgraff mit dem insigel desselbigen mines pfaltzgraffenamtz.»
Im Alter von 35 Jahren erfuhr Bonstetten innerhalb weniger Monate von drei unglaublichen Geschehnissen: Anfangs März 1476 siegte ein eidgenössisches Heer bei Grandson über Burgund, die stärkste Militärmacht im damaligen Europa, angeführt vom aufgehenden Stern Karl dem Kühnen. Ende Juni vernahm Bonstetten von der zweiten Niederlage Burgunds oder besser: vom zweiten Sieg der Eidgenossen bei Murten. Kurz nach Neujahr 1477 kam zum Dritten eine entsprechende Nachricht aus dem lothringischen Nancy. Das muss Bonstetten eingefahren sein wie «Tubaton des Weltgerichts, voran der Schellenträger».
«Karl der Kühne verlor bei Grandson den Mut, bei Murten das Gut, bei Nancy das Blut.» Für Albrecht von Bonstetten ein Erklärungsnotstand: Die Eidgenossen seien nach den drei Siegen über Burgund zwar überall bekannt, schrieb er, dennoch kenne niemand dieses Volk, sein Land, seine Sitten und Taten. Deutlicher hätte der weltgewandte Einsiedler Mönch und Dekan kaum darlegen können, was ihn dazu veranlasste, zwei Jahre nach den Burgunderkriegen eine Abfolge von vier Karten zu zeichnen, die sich lesen wie eine Schöpfungsgeschichte der Eidgenossenschaft.
Als Bonstetten seine T-O-Karten anfertigte, gab es bereits weit bessere geografische Darstellungen. Seit 1450 fanden die sogenannten Ptolemäuskarten in Europa rasche Verbreitung. Aber selbst wenn ihr Gradnetz als grosse Errungenschaft galt: Was sollte Bonstetten damit? Bewusst griff er auf die überholte, nicht realistische Raddarstellung aus dem Mittelalter zurück, denn genau damit erreichte seine Botschaft die ihr zugedachte Wirkung: Die Eidgenossenschaft als Brennpunkt der damaligen Zeit. Ein Dokument ersten Ranges für das wachsende Selbstbewusstsein und den Zusammenhalt der Eidgenossen.
Eine Generation vor Bonstetten hatte es noch völlig anders getönt. Im Alten Zürichkrieg (1436–1450) waren die Eidgenossen zu Rebellen erklärt worden, am schärfsten nicht etwa von den Habsburgern selbst, sondern vom Zürcher Chorherrn Felix Hemmerli, einem Parteigänger Österreichs. Für ihn hatte das Übel seinen Anfang genommen mit dem Aufstand der Talleute von Schwyz gegen den habsburgischen Vogt auf der Insel Schwanau im Lauerzersee. In seiner Abhandlung über Adel und Bauerntum bezeichnete der vehemente Chorherr des Grossmünsters die Eidgenossen als bestialische Wesen, mehr den Kühen verwandt als den Menschen.
Bestialisch hier, auserwählt dort. Als die eidgenössischen Gesandten 1475 vor Karl dem Kühnen erschienen, liess sie der mächtige Herzog zwar unstatthaft lange auf den Knien warten, aber als Karl sie fragte, ob sie wüssten, worauf sie sich einliessen, antworten diese, sie fürchteten sich nicht, «denn die loblichen eidgenossen (seien) in des almechtigen gottes schirm». Die verstiegene Behauptung, «von den frommen eidgenossen bleib keiner tot im velde, das schuof das göttlich recht», datiert zwar nach 1500, hätte aber ebenso zu dieser Antwort gepasst wie die kühne Behauptung, Gott habe «die unedlen usserwelt, die frumen, edlen puren».
In den wilden 1470er-Jahren geriet die Eidgenossenschaft an den Rand des Abgrunds. Saubannerzug (1477), Amstaldenhandel (1478) und Burgrechtsstreit (1478–1481) bedrohten den nach wie vor fragilen Bund. Nach zahlreichen Anläufen, die sich über Monate hinzogen, drohte der Tagsatzung von Stans kurz vor Weihnacht 1481 ein Desaster. Doch die Eidgenossen erwiesen sich in der Krise einmal mehr als Meister in der Kunst des Möglichen.
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