Die Schmugglerinvasion
Während des Zweiten Weltkriegs erhielt die Schweizer Grenze für zahlreiche zivile Flüchtlinge, Partisanen, Deserteure und bedrängte ausländische Truppenteile schicksalshafte Bedeutung. Der Schmuggel an der Südgrenze erreichte einen Höhepunkt.
Mit der Einführung der Kriegswirtschaft in der Schweiz sollte die Versorgung von Bevölkerung, Wirtschaft und Armee über ein staatlich gelenktes Verteilungssystem geregelt werden. Neben den staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und die Verteilung der Lebensmittel wurde auch der Bekämpfung des Schwarzmarktes und des Schmuggels eine grössere Aufmerksamkeit geschenkt. In den ersten Kriegsjahren ging der «Schleichhandel» merklich zurück. Während die Schmuggelaktivitäten vor allem in der Nord- und Ostschweiz verhältnismässig gering blieben, nahmen sie an der Südgrenze ab Herbst 1942 – in umgekehrter Richtung von Italien in die Schweiz – ein bisher ungekanntes Ausmass an.
Ursache für diese Entwicklung war die chaotische Lage in Norditalien. Nach der Landung der Alliierten in Sizilien im Juli 1943 besetzten deutsche Truppen das Gebiet. Der von einem Kommando befreite Diktator Benito Mussolini wurde Regierungschef der italienischen Sozialrepublik (Repubblica Sociale Italiana), einem deutschen Satellitenstaat. Die Situation der dort lebenden Bevölkerung verschlechterte sich dramatisch, viele Menschen flüchteten in die Schweiz. Zahlreiche Dienstverweigerer, Fahnenflüchtige und Partisanen gingen in den Untergrund oder zogen sich in gebirgige Regionen entlang der Schweizer Grenze zurück. Dort war es ihnen jedoch kaum mehr möglich, einer regulären Arbeit nachzugehen und sie erhielten auch keine Marken für die ohnehin bereits dürftigen Lebensmittelrationen mehr. Um trotzdem überleben zu können, betätigten sich viele als Schmuggler.
Zeitalter des Reises
Ganze Menschenkolonnen machten sich auf den Weg, um Lebensmittel wie Mehl, Butter, Salami, Käse, aber auch Schuhe, Veloreifen, Seide und Esel über die Grenze zu bringen. Das mit Abstand am meisten geschmuggelte Gut war aber Reis, weshalb man sich noch heute in der Grenzregion an die «epoca del riso» («das Zeitalter des Reises») erinnert. Die an der Südgrenze konfiszierten Reismengen waren beeindruckend: schon nur im letzten Kriegsjahr wurden 115 Tonnen konfisziert! In der gleichen Zeit wurden 9'154 Schmuggler gefasst, die effektive Zahl illegaler Warentransporte dürfte etwa fünfmal höher gewesen sein. Die Jahresberichte des Tessiner Zollkreises sprachen von einer «wahrhaften Schmugglerinvasion».
Der Zweite Weltkrieg markierte eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Schmuggels. Nachdem der Schmuggel von der Schweiz nach Italien bisher vorherrschend war, erfolgte dieser nun mehrheitlich in umgekehrter Richtung. Dieses Phänomen lässt sich nicht wie lange geglaubt in erster Linie durch den hohen Bedarf an Lebensmitteln in der Schweiz erklären, sondern vor allem durch den Wechselkurs zwischen italienischer Lira und Schweizer Franken. Während des Kriegs blieb der Franken durch die (kontroverse) Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank relativ stabil, in Italien schritt die Entwertung der Lira dagegen schnell voran. Wenn die italienischen Schmuggler ihre Ware in der Schweiz verkauften, brachten sie den eingenommenen Betrag in Italien auf den Schwarzmarkt, wo der Schweizer Franken sehr gefragt war. Mit dem Erlös liessen sich viel mehr Waren kaufen als man vorher besessen hatte.
Menschen-Schmuggel über die Grenze
Schmuggler kannten die Grenze wie ihre eigene Hosentasche. Etliche unter ihnen betätigten sich auch als «Passeure», indem sie aus Gefangenenlagern geflüchtete alliierte Soldaten und Juden über die Grenze brachten. Nicht selten nutzten sie die Todesangst der jüdischen Flüchtlinge schamlos aus und forderten horrende Beträge von ihnen. Es sind Beispiele von bis zu 50'000 Lire pro Durchreise bekannt. Auch die im Tessin stationierten Geheimdienste der Alliierten waren auf ihre Hilfe angewiesen. Über die Schmuggler liessen sie dem italienischen Widerstand finanzielle Unterstützung und Waffen zukommen.
Während des Kriegs waren im Grenzgebiet viele Waffen in Umlauf gekommen. Insbesondere wenn sich ehemalige Soldaten oder Partisanen als Schmuggler betätigten, arteten die Konflikte an der Grenze manchmal in blutige Auseinandersetzungen aus. In der Nähe des Grenzwachtpostens von Cantine di Gandria, wo sich heute das Schweizer Zollmuseum befindet, kam es beispielsweise am Morgen des 27. November 1944 zu einer Begegnung zwischen einem Soldaten und drei Schmugglern. Für ein Mitglied der Schmugglergruppe mit dem Namen Rinaldo Fiumberti endete sie tödlich. Solche tragischen Zwischenfälle mobilisierten auch die Presse, welche diese Geschehnisse unter dem Titel «Wild West im Tessin» kommentierte. Die Berichterstattung trug dazu bei, dass die «Schmugglerinvasion» im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in der Grenzregion noch heute stark verankert ist.