Die Schweiz und die Fussball-WM
Heute beginnt die Fussball-WM in Russland. Die Schweiz macht sich berechtigterweise Hoffnung auf ein Weiterkommen. Das war nicht immer so. Beni Thurnheer erinnert sich...
Die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft an einer WM-Endrunde, das war schon immer etwas Besonderes. Als ich Kommentator am Schweizer Fernsehen wurde, war es auch etwas ausgesprochen Seltenes. 28 Jahre lang, zwischen 1966 und 1994, fand die WM ohne die Schweiz statt. Eine Abwesenheitsperiode, die eine grosse Zäsur darstellt. In der Geschichte der sogenannten Rotjacken (wegen der Tenüfarbe), bei denen die Spieler in der Urzeit pro Einsatz jeweils eine Länderspiel-Kappe erhielten, darf ohne weiteres von einer Zeit vorher (mit Jacke und Kappe!) und einer Zeit nachher gesprochen werden.
Die Anfänge
Für die erste WM, 1930 in Uruguay, interessierten sich die Schweizer ebenso wenig wie die meisten anderen europäischen Länder. Vier Jahre später war das bei der WM im Nachbarland Italien bereits anders. Die Schweizer schlugen im Achtelfinal die Niederlande mit 3:2 und unterlagen im Viertelfinal der Tschechoslowakei mit 2:3. Von diesen beiden Partien spricht heute kaum mehr jemand. Ganz anders die WM 1938 in Frankreich. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges mussten die kleinen Eidgenossen ausgerechnet gegen Gross-Deutschland antreten, das sich bereits Österreich einverleibt hatte, und dessen Bundestrainer Sepp Herberger den Befehl erhielt, aus politischen Gründen einige Spieler des eroberten Landes einzusetzen. Das ging wegen der dadurch fehlenden Automatismen gründlich schief. Nicht nur erzwangen die keck auftrumpfenden Schweizer mit einem 1:1 nach Verlängerung ein Wiederholungsspiel, dieses gewannen sie auch noch mit 4:2! Bis heute gilt dieser Sieg als der grösste in der Geschichte der Fussball-Nationalmannschaft. Ich wurde erst elf Jahre später geboren, doch nach und nach erfuhr ich beinahe jedes Detail zu diesem historischen Spiel. Zum Beispiel die Schweizer Torschützen Trello Abegglen (2), Bickel und Walaschek. Wie ging es weiter? Im Viertelfinal verlor die Schweiz gegen Ungarn mit 0:2. In der kollektiven Erinnerung ist davon erneut praktisch nichts hängen geblieben.
Die nächste WM fand wegen des Zweiten Weltkrieges erst 12 Jahre später statt, 1950 in Brasilien. Die Europäer nahmen diesmal die weite Reise auf sich, denn nun brauchte es dank dem Flugzeug keine mehrwöchige Schiffahrt mehr! Das Schweizer Spiel, das bis heute noch nicht vom Schlund der Vergessenheit erfasst worden ist, war dasjenige gegen das Heimteam aus Brasilien. Roger Quinche, einer der Verteidiger, der später mein Reporterkollege beim Fernsehen wurde, regte sich bis zu seinem Lebensende über einen krassen, vielleicht sogar absichtlichen Schiedsrichterfehler auf. Ein brasilianischer Steilpass geriet zu lang, der Ball rollte etwa einen Meter hinter die Torlinie und die Gäste machten sich für den Abschlag aus dem Fünfmeterraum bereit. Doch Brasilien spielte einfach weiter. Der schlaue Ademir flankte ungerührt von hinten vors Tor, und so fiel das 1:0 ohne jede Gegenwehr. In einem heroischen Kampf entrissen die Eidgenossen den hoch favorisierten Einheimischen in Sao Paulo trotzdem noch ein viel beachtetes 2:2 Unentschieden. Jacky Fatton schoss beide Tore. Ein Sieg gegen Mexiko (2:1) und eine Niederlage gegen Jugoslawien (0:3) reichten aber nicht fürs Weiterkommen.
Auch die WM von 1954 in der Schweiz muss noch der Anfangszeit zugerechnet werden. In den Vorrundengruppen spielte noch nicht jeder gegen jeden, dafür musste das Heimteam gleich zweimal gegen Italien gewinnen (2:1 und in einem Entscheidungsspiel 4:1), um in den Viertelfinal vorzustossen. Dort kam es in Lausanne zu einer legendären Hitzeschlacht, in welcher die Schweiz Österreich mit 5:7 unterlag! Es ist dies bis heute das torreichste WM-Endrundenspiel geblieben. Dank Treffern von Ballamann und zweimal Hügi führten die Schweizer nach einer Viertelstunde bereits mit 3:0! Doch die Gäste schlugen zurück und erzielten die nächsten 5 Treffer, wovon 3 durch Weitschüsse von ausserhalb des Strafraums. Torhüter Parlier hatte in der sengenden Sonne wohl einen Sonnenstich erlitten und hielt deshalb kaum einen Ball. Auch andere Spieler litten, nur Ballamann und Hügi nicht, die je einen weiteren Treffer erzielten, doch die nützten gegenüber den total 7 Treffern der Österreicher nichts mehr.
Nun begann für die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft eine lange Durststrecke. Von den nächsten 9 WM-Endrundenturnieren verpasste sie deren 7, und die WM-Teilnahmen von 1962 und 1966 endeten mit lauter Niederlagen. Das war die Epoche, in die ich als TVKommentator hineingeboren wurde und während langer Zeit bestenfalls von «ehrenvollen Niederlagen» berichten konnte.
WM 1994: Highlights im gedeckten Stadion
Ich hatte für das Schweizer Fernsehen schon an den WM-Endrunden in Argentinien, Spanien, Mexiko und Italien kommentieren dürfen, doch die Fussball-WM von 1994 führte mich in eine neue Dimension. Erstmals seit 28 Jahren war die eigene Mannschaft wieder einmal dabei. «Amerika» war ausserdem die Traumferiendestination schlechthin, das Interesse an der WM deshalb riesengross. Ich durfte deshalb schon für die Auslosung der sechs Vierergruppen, die live am Fernsehen übertragen wurde, nach Las Vegas fliegen. Dort lernte ich den früheren Mittelfeld-Strategen der Nationalmannschaft von Deutschland, Günther Netzer, kennen, der sich, wohl aus Dankbarkeit gegenüber seinem neuen Wohnsitz in der Schweiz, als unser Co-Kommentator verpflichten liess. Ein Traumteil mehr in unserem WM-Puzzle! Vor allem aber befehligte der englische Coach Roy Hodgson ein vielversprechendes Team mit zahlreichen Spielern, die sich gerade zur richtigen Zeit ihrem leistungsmässigen Zenit näherten und auch gut zueinander passten.
Die ersten zwei Begegnungen bestritt die Schweiz in Detroit, wo es im Pontiac Silverdome zu einer Premiere kam, den ersten WM-Spielen in einem vollkommen gedeckten Stadion. Es roch nach Popcorn! Bis zum heutigen Tag entfaltet sich vor meinem geistigen Auge die ganze Szenerie und Stimmung des Stadions, wenn von irgend woher Popcorn-Duft in meine Nase steigt. Gegen Gastgeber USA gingen die Schweizer durch einen direkt verwandelten Freistoss von Brégy mit 1:0 in Führung. Wenige Minuten später glichen die Amerikaner durch Wynalda auf praktisch identische Weise aus. «Es gibt nur einen Brégy», hatte ich das Fernsehvolk und mich selbst vor diesem USA-Freistoss noch zu beruhigen versucht, vergebens! Der Satz ging in die Sammlung der legendären TV-Kommentatoren- Sprüche ein. Es blieb bis zum Schluss der Partie beim 1:1.
Im zweiten Spiel an gleicher Stelle trafen die nun bereits etwas an die stickige Luft gewöhnten Schweizer auf die in dieser Beziehung noch ahnungslosen Rumänen und schlugen sie dank Toren von Sutter, Chapuisat und zweimal Knup gleich mit 4:1! «Die haben die glatt an die Wand gespielt», fachsimpelten die deutschen Altinternationalen Netzer und Rummenigge nach der Begegnung. Kurz darauf verpflichtete Rummenigges Bayern München Alain Sutter, und drei Jahre später gewann Stéphane Chapuisat mit Borussia Dortmund den Europacup der Meister (heute: Champions League). Die langen Transfers nach San Francisco und nach Washington bekamen den Spielern dann nicht mehr so gut: Im bedeutungslos gewordenen letzten Gruppenspiel verloren sie gegen Kolumbien mit 0:2 und im Achtelfinal gegen Spanien mit 0:3.
WM 2006: Zuschauerrekord und Penaltyfrust
Die Fussball-WM bei den Nachbarn in Deutschland erreichte die Schweiz nach zwei dramatischen Entscheidungsspielen gegen die Türkei. Trotz eines eigentlichen Psycho-Terrors im Rückspiel in Istanbul setzten sich die Eidgenossen dank der mehr erzielten Auswärtstore durch (2:0 und 2:4). Die Endrunde begann in Stuttgart gegen den Gruppenfavoriten Frankreich. Beide Teams agierten sehr vorsichtig, das Spiel endete torlos. Dies war ein guter Start für die Schweiz, denn nun folgten zwei eher schwächer einzustufende Gegner.
Von den beiden nun folgenden Partien sind vor allem die riesigen rotweissen Zuschauermassen in Erinnerung geblieben. Fast alle der 65'000 Zuschauer im Dortmunder Westfalenstadion trugen einen roten Dress mit weissem Kreuz auf der Brust. Politiker, Künstler, TV-Moderatoren, von denen man das nie geglaubt hätte, wohnten derart eingekleidet dem Spiel Schweiz-Togo bei, das mit einem mühsam erkämpften 2:0- Sieg endete. Frei schoss schon in der 16. Minute das vielumjubelte 1:0, Barnetta stellte den Erfolg erst mit seinem Treffer in der 88. Minute sicher. Nie mehr wurde eine Nationalmannschaft derart stark vor Ort unterstützt, in der Heimat existiert eben gar kein so grosses Stadion.
Die Achtelfinalqualifikation wurde vier Tage später in Hannover unter ganz ähnlichen Bedingungen und sogar mit dem gleichen Resultat sichergestellt. Gegen Südkorea erzielten Senderos mit dem Kopf in der 23. Minute und Frei in der 78. Minute die beiden Treffer und bescherten ihrem Team damit sogar den Gruppensieg.
Der Achtelfinal fand in Köln gegen die Ukraine statt. Beide Teams schenkten sich nichts, schon gar keine Freiräume, in denen man sich entfalten oder in Schussposition bringen konnte. 0:0 nach 90 Minuten. 0:0 nach Verlängerung. Ein Penaltyschiessen musste entscheiden. Als Erster lief der ukrainische Superstar Schewtschenko an… und scheiterte! An diesem Punkt, am 26. Juni 2006 um 23.35 Uhr erreichte die Schweizer Fussball-Aktie ihr Allzeithoch. Doch die Zeit blieb nicht stehen und das Schicksal wendete sich: Alle drei Schweizer Elfmeterschützen versagten, das Team von Köbi Kuhn schied aus, Goalie Pascal Zuberbühler sogar ohne in der regulären Spielzeit und in total 390 Minuten einen einzigen Treffer zugelassen zu haben!
WM 2010: Den Weltmeister besiegt
Die WM 2010 in Südafrika lässt sich aus Schweizer Sicht in einer Schlagzeile zusammenfassen: Sieg gegen den Weltmeister! Gegen Europameister Spanien trat das nunmehr von Othmar Hitzfeld betreute Team als krasser Ausssenseiter an, und so entwickelte sich das Spiel auch, Spanien spielte praktisch auf ein Tor. Doch in der 52. Minute, bei einem der seltenen Gegenangriffe der Schweizer, geschah das beinahe Unfassbare. Gelson Fernandes spitzelte einen Prellball über die Torlinie. In der Folge überstanden die «Underdogs» alle Ausgleichsbemühungen, auch in der nicht mehr enden wollenden sechsminütigen Nachspielzeit!
Die Erfolgskurven änderten nach dieser Partie aber sofort ihre Richtung. Die Schweiz verlor gegen Chile 0:1, kam gegen Honduras nicht über ein 0:0 hinaus und musste nach Hause reisen. Spanien dagegen reihte fortan Sieg an Sieg und wurde Weltmeister!
WM 2014: Knapp an der Sensation vorbei
Vier Jahre später gelang dem Hitzfeld-Team in Brasilien die Rehabilitation: In Brasilia gewann es zum Auftakt gegen Ecuador mit 2:1. Den in der ersten Halbzeit eingefangenen Rückstand glich Mehemdi, der zur Pause eingewechselt wurde, schon in der 48. Minute aus. In der Nachspielzeit, in der 93. Minute, erkämpfte sich Behrami mit seinen allerletzten Energiereserven und seinem unbändigem Kampfgeist den Ball und stürmte wild voran. Zum Abschluss seines Rushs gelang ihm noch ein exzellenter Pass, und schliesslich erzielte Seferovic das dramatische Last-Minute-Siegestor. Gegen Frankreich gab es in Salvador de Bahia dafür einen Rückschlag in Form einer empfindlichen 2:5 Schlappe zu verkraften (die Ehrentore erzielten Xhaka und Dzemaili). Drei Shaqiri-Tore zum 3:0 gegen Honduras machten dann die Achtelfinalqualifikation aber klar. In Sao Paulo wartete nun das unschlagbar scheinende Argentinien mit seinem Superstar Lionel Messi auf die Schweizer. Wieder spielten diese gegen einen der Turnierfavoriten stark, wieder mussten sie sich in einem Achtelfinal hauchdünn geschlagen geben. Den zahlreichen argentinischen Topskorern gelang 90 Minuten lang kein Tor. Auch die Verlängerung neigte sich nach ausgeglichenem Kampf bereits ihrem Ende zu. In der 118. Minute sorgte dann Messi doch noch für den Unterschied, aber nicht als Torschütze, sondern als Passgeber für Di Maria. Hitzfelds Mannen gaben aber noch immer nicht klein bei, und in der 122. Minute setzte Dzemaili den Ball noch an den Pfosten. Wieder heroisch ausgeschieden, aber eben wieder draussen nach dem Achtelfinal.
WM 2018:
Die Fortsetzung wird gerade geschrieben…