Tobias Stimmer, Selbstbildnis, um 1563 (Ausschnitt).

Stimmer für immer verloren?

Am 1. April 1944 brannte nach der versehentlichen Bombardierung Schaffhausens das Museum zu Allerheiligen. In der Kunstabteilung gingen fast 80 Gemälde verloren. Besonders schmerzhaft war der Verlust von acht Originalen des berühmten Schaffhauser Renaissance-Künstlers Tobias Stimmer (1539–1584).

Andreas Rüfenacht

Andreas Rüfenacht

Andreas Rüfenacht, Dr. des., Kunsthistoriker, ist seit April 2018 Kurator Kunst am Museum zu Allerheiligen Schaffhausen.

Als die Bomben auf Schaffhausen fielen, hatten fünf Volltreffer im Westtrakt des Museums fatale Folgen für die Kunstabteilung. Besonders zerstörerisch wirkte eine Sprengbombe, die mitten in den Ausstellungsräumen detonierte. Ihre Druckwelle schob die hölzernen Wände zusammen und warf beidseitig die Langwände in den Hof, die Betondecke stürzte ein. Desaströs war auch der Einschlag einer Brandbombe im so genannten Stimmer-Kabinett – demjenigen Raum also, in welchem der gesamte Bestand an Gemälden des bedeutenden Schaffhauser Renaissance-Künstlers ausgestellt war.

Der zerstörte Westtrakt mit der eingestürzten Decke der Kunstabteilung, April 1944.
Archiv des Museums zu Allerheiligen Schaffhausen

Rauchschwaden entsteigen dem brennenden Stimmerkabinett im Museum zu Allerheiligen, 1. April 1944.
© Stadtarchiv Schaffhausen

Das Stimmer-Kabinett im Zustand vor der Bombardierung, um 1940.
Archiv des Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Das Resultat der Bombardierung war die Verwüstung des qualitätsvollsten Anteils an Schaffhauser Kunst vor 1800. Im verheerenden Feuer des Stimmer-Kabinetts wurden vom Meister selbst, seinem Umkreis und seinen Nachfolgern 15 Gemälde vernichtet, davon acht Originale. Deren vier waren Eigentum der alten Schaffhauser Familie Peyer gewesen, eines hatte der Gottfried-Keller-Stiftung gehört. Alle waren sie anlässlich der Museumseröffnung 1938 dem Museum als Dauerleihgaben übergeben worden.

Die Bedeutung Tobias Stimmers war damals längst bekannt und der Künstler in Schaffhausen 1926 und 1939 in zwei grossen Ausstellungen gewürdigt worden. Die Neue Zürcher Zeitung gedachte in ihrer Sonntagsausgabe vom 23. April 1944 den Verlusten:

«Das Kabinett, das die Werke (…) beherbergte, ist die eigentliche Schatzkammer des Museums gewesen. Das Einmalige dieser Kollektion war (…), dass sie die Mehrzahl der wenigen bekannten Bildnisse des grössten Schaffhauser Malers umfasste.»

Auf dem Kunstmarkt Originale von Stimmer als Ersatz für die vernichteten Gemälde zu finden, war kaum möglich. Daher konnte Schaffhausen erhebliche Geldsummen aus Reparationszahlungen der USA und von den Versicherungen erwarten.

Nach kontroversen Schadensschätzungen insbesondere der seltenen Stimmer-Bilder überwiesen die Vereinigten Staaten bis 1950 für die gesamten Verluste des Museums 611'000 CHF (teuerungsbereinigt ca. 3 Mio. CHF) an Reparationszahlungen nach Schaffhausen. Davon entfielen 70'000 CHF auf die drei verlorenen Stimmer-Originale des Museums. Die geschädigte Familienstiftung der Peyer-Dynastie erhielt ihrerseits für die vier zerstörten Gemälde des Schaffhauser Renaissance-Künstlers (und für ein weiteres aus dem 16. Jahrhundert) 300'000 CHF, die Gottfried-Keller-Stiftung wurde mit 60'000 CHF entschädigt.

Die zerstörten Schaffhauser Stimmer-Bildnisse. In: Das Wochen-Ende. Neue Zürcher Zeitung 688, 23.4.1944, S. 6.
Zentralbibliothek Zürich

Drei zerstörte Porträts Tobias Stimmers (v.l.n.r.): Heinrich Peyer, 1566; Barbara Peyer-Schobinger, 1566; Dr. Martin Peyer, 1566.
Archiv des Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Trotz dieses dramatischen Einschnitts in die damaligen Sammlungsbestände besitzt Schaffhausen heute eine bedeutende Sammlung an Arbeiten des Multitalents aus der Munotstadt: zwei von sechs erhaltenen Gemälden, knapp 20 von rund 100 überlieferten Zeichnungen, darunter sein Selbstbildnis, sowie zahlreiche Druckgraphiken.

Als Mahnmal für die Verluste und gleichzeitiger Ausdruck des Willens, weiterhin Kunstwerke Stimmers zu sammeln, ist das Porträt des Zürcher Naturforschers Conrad Gessner (1516–1565) zu bezeichnen. 1944 ausgestellt, überstand es auf wundersame Weise die Bombardierung: Es wurde durch die Druckwelle der explodierten Sprengbombe aus dem nördlichen Fenster hinunter auf die Gasse geschleudert, wo es nur leicht beschädigt aufgefunden wurde und restauriert werden konnte.

Wichtiger Faktor für die Erweiterung der ohnehin bereits vor dem Krieg gut dotierten Sammlung an Zeichnungen war indessen die Gründung der so genannten «Peyerschen Tobias Stimmer-Stiftung» (PTSS). Aus der Erfahrung des Verlusts hatte die Familie Peyer bereits in den Wochen nach der Bombardierung ihren Willen festgehalten, allfällige Entschädigungszahlungen in einen Stiftungsfonds zu überführen. 1946 wurde die neue Stiftung gegründet und nach dem begabten Schaffhauser Künstler benannt. Ihr primärer Zweck ist es bis heute, das Kulturerbe Schaffhausens in seiner Vielfalt für die Zukunft zu bewahren. So konnten auch fünf kostbare Zeichnungen Stimmers angekauft werden.

Tobias Stimmer, Bildnis Conrad Gessner, 1564.
Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Inv. A6

Tobias Stimmer, Geburt Christi, 1565.
Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Inv. A 6288, Foto: Jürg Fausch

Eine davon ist die auf den ersten Blick unspektakuläre Geburt Christi. Das Blatt zeugt von Stimmers künstlerischer Meisterschaft im freien Umgang mit einem traditionellen Motiv. Originell ist die kecke Präsentation des nackten Jesuskindleins. Diese ist anrührend menschlich und bibelkonform zugleich: Der Mensch gewordene Sohn Gottes muss gewickelt werden.

Ein Coup gelang der PTSS durch den Ankauf der kleinen aquarellierten Zeichnung mit dem Selbstbildnis Tobias Stimmers. Nach jahrelangen Verhandlungen konnte es 1991 für Schaffhausen erworben werden. Der selbstbewusste Ausdruck des jungen Künstlers sucht in einer Zeit, in der Individuum und Selbstdarstellung immer wichtiger wurden, ihresgleichen. Und aus heutiger Perspektive ist es gewissermassen das erste Selfie Schaffhausens.

Kabinett­aus­stel­lung «Stimmer für immer verloren»

anlässlich der Sonderausstellung «Kunst aus Trümmern. Schweizer Kulturspenden nach der Bombardierung Schaffhausens 1944».

Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

18.5.–20.10.2019

Die irrtümliche Bombardierung Schaffhausens durch amerikanische Flugzeuge am 1. April 1944 brachte Tod und Zerstörung über die Stadt. Getroffen wurden auch das Museum zu Allerheiligen und das damalige Naturhistorische Museum. Dem tragischen Ereignis folgte eine beispiellose schweizweite Solidaritätswelle. Gemeinden, Kantone und Private spendeten neben Geld auch Kunstobjekte.

Erstmals präsentiert eine Ausstellung die rund 80 Kunstwerke aus dieser sogenannten Kulturspende. Bewegende Filmwochenschauen, Zeitzeugenberichte und historische Fotos ergänzen die Exponate. Die Dauerausstellung Schaffhausen im Zweiten Weltkrieg komplettiert den Rundgang und schafft einen grösseren historischen Zusammenhang.

www.allerheiligen.ch

Tobias Stimmer, Selbstbildnis, um 1563.
Dauerleihgabe der Peyerschen Tobias Stimmer-Stiftung. Museum zu Allerheiligen, Inv. 5924

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