Im Ozean der Geschichte
Der Basler Gelehrte Jacob Burckhardt und der Historismus.
«Überall im Studium mag man mit den Anfängen beginnen, nur bei der Geschichte nicht.» Auf den ersten Blick überrascht dieser Satz aus den Weltgeschichtlichen Betrachtungen von Jacob Burckhardt. Besteht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft denn nicht genau darin? Ist sie dank breiter Kenntnisse und ausgefeilter Methoden nicht genau hierfür prädestiniert? Der Widerspruch tritt uns als leicht ironische Formulierung entgegen, wie sie für den Basler Gelehrten charakteristisch war. Doch jenseits der Polemik gegen die historische Zunft seiner Zeit, die er genussvoll zu betreiben wusste, gibt die Aussage den Blick frei auf Burckhardts Vision von Geschichte und auf sein Selbstverständnis als Kunst- und Kulturhistoriker.
Burckhardts Skepsis gegenüber historisch eruierten Anfängen war zweifacher Natur. Einerseits hielt er sie weitgehend für Projektionen, die aus der Gegenwart auf einen meist mehr oder weniger zufällig gewählten Punkt der Vergangenheit gerichtet wurden. «Unsere Bilder der Anfänge sind meist doch bloß Constructionen, ja bloße Reflexe von uns selbst», schrieb er. Burckhardt, der von den Ereignissen seiner Zeit tief beeinflusst, jedoch nicht geblendet war, kritisierte andererseits, dass diese Anfänge namentlich zur historischen Begründung von Nationalstaaten herhalten mussten. Damit wandte er sich unmissverständlich gegen Hegels Geschichtsphilosophie und eine darauf rekurrierende Geschichtsschreibung, wie sie in Deutschland vorherrschte und die im Preussischen Staat das notwendige Ziel der Geschichte erkennen wollte. Denn, so Burckhardt, «das kecke Anticipiren eines Weltplans führt zu Irrthümern, weil es von einem Princip ausgeht». Entsprechend musste für ihn offenbleiben, wo das Studium der Geschichte denn nun anzusetzen hätte. Seine Antwort auf diese Frage lautet, erneut leicht ironisch: «Jedenfalls, irgendwo.»
Zur Abkehr von einem linearen Geschichtsverständnis trat bei Burckhardt eine Umwertung historischer Betrachtung. Aufgabe des historischen Studiums sei es nicht, noch so weite Ereignisketten, sondern «die Wandelbarkeit des Geistigen wie des Materiellen, überhaupt des Menschen» darzustellen. Damit zielte Burckhardt auf eine Strukturgeschichte avant la lettre oder auf eine Kulturmorphologie, welche die Vergangenheit als anthropologische Konstellation übergreifender Wandlungsprozesse ebenso darzustellen vermochte wie als spezifisch historische Situation. Auf den «Schutt der blossen Ereignisse» sei dabei getrost zu verzichten. An seinen Freund Friedrich von Preen schrieb Burckhardt am Silvesterabend 1870 unter dem Eindruck des Deutsch-Französischen Krieges: «Mir als Geschichtsdocenten ist ein ganz merkwürdiges Phänomen klar geworden: die plötzliche Entwerthung aller blossen ‹Ereignisse› der Vergangenheit.»
Aus dieser Abwendung vom politischen Historismus der von Leopold Ranke begründete Schule formulierte Burckhardt nicht nur sein Programm einer Kulturgeschichte, sondern er gewann daraus auch ein neues Verständnis des Geschichtlichen und seiner Aufgabe als Historiker, die er beide als dynamisch miteinander verwoben begriff. Hierzu gehörte wesentlich auch seine Abscheu vor vermeintlich exakten Methoden. «Wir sind ‹unwissenschaftlich› und haben gar keine Methode, wenigstens nicht die der anderen.» Diese Formulierung aus der Griechischen Kulturgeschichte findet ihren Widerklang auch in der Einleitung zu den Weltgeschichtlichen Betrachtungen, wo Burckhardt dem Absolutheitsanspruch historischer Methode pointiert widerspricht. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass Burckhardt die Geschichtswissenschaft und ihre Methoden selbst nicht als etwas ausserhalb des Geschichtlichen Stehendes verstand. Bis heute beansprucht diese Vorstellung Gültigkeit, die der Basler Gelehrte in einen für ihn so typischen Satz gegossen hatte. «Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben – allein wir sind diese Welle selbst.» Es gibt mit anderen Worten keine scharfe Trennung zwischen Historischem, Geschichtswissenschaft und Gegenwart.
In der Cultur der Renaissance in Italien von 1860 zeigt sich, wie Burckhardt diesen Gedanken in doppelter Weise produktiv machte. Er untersucht darin eine historische Epoche, die sich selbst auf eine spezifische Vergangenheit, nämlich die Antike bezog, und zugleich war die Analyse dieser historischen Periode ihrerseits tief geprägt von den Erfahrungen seiner eigenen Zeit: Erstarken des Nationalstaates, Entwicklung des Kapitalismus, Demokratisierung und sozialer Wandel im Zeitalter der Industrialisierung. All dies prägte seine Perspektive auf die Renaissance, ermöglichte aber auch innovative Analysen und forderte vor allem zur kritischen Reflexion auf. So ist etwa die berühmte und häufig missverstandene Formel des «Staates als Kunstwerk» nur in dieser Spannung verständlich, in der Burckhardt Antike, Renaissance und 19. Jahrhundert historiographisch, ästhetisch und ethisch miteinander verband.
Durch sein Renaissance-Buch ist Burckhardt bis heute weltbekannt. Die darin angelegte Perspektive auf das Historische war für ihn aber keinesfalls an die italienische Renaissance gebunden, sondern weit grundlegender, gleichsam conditio humana. Insofern lieferten weniger die Renaissance als vielmehr die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts die entscheidenden historischen Erfahrungen, aus denen Burckhardt sein Geschichtsverständnis gewann. Denn die Revolution war ihm zum leitenden Prinzip sowohl für die geschichtliche Gestaltung als auch für die historische Erkenntnis selbst geworden. Die Konsequenz hieraus lautete: Nichts mehr war selbstverständlich. So erklärt sich auch Burckhardts unablässiges Bedürfnis, das Zeitgeschehen zu kommentieren, und die Weise, wie er dieses befriedigte: kritisch, zuweilen spöttisch, meist ironisch (auch gegenüber sich selbst), manchmal aber auch ungerecht oder gar verfehlt. Wie auch immer man Burckhardts Äusserungen einschätzen mag (man sollte es jedoch vor allem im Kontext ihrer Entstehung tun), so bleibt das Engagement kritischer Zeitgenossenschaft jenseits tagespolitischer Interessen bis heute aktuell und unverzichtbar.
Burckhardt blickte mit umfassender Kenntnis der Quellen, doch ohne starres Konzept von Epochenbildung in die Geschichte. «Lassen wir doch jeder Epoche ihren Wert», schrieb der junge Burckhardt noch ganz unter dem Eindruck seines Berliner Studiums bei Leopold von Ranke und Franz Kugler. Diese Ansicht bewahrte er zeitlebens. Die Vergangenheit nach einem modernen Wertekanon zu beurteilen, sie in «Glück und Unglück» einzuteilen, erachtete er hingegen nicht als seine Aufgabe. Urteile seien «die Todtfeinde der wahren geschichtlichen Erkenntnis», schrieb er 1886. Damit gewann er eine Perspektive, die auch gegenüber Rückgriffen auf das Historische in Kunst und Kultur weit offener war als die Geschichtsschreibung seiner Zeit. Renaissancen, «Neo-Bewegungen» und historistische Gesten, namentlich in der Architektur, galten ihm deshalb nicht als Verfehlungen und Rückkehr in frühere stilistisch oder historisch minderwertige Vergangenheiten, sondern als Bestandteil diachroner Geschichtsprozesse, d. h. als Fortleben der Geschichte bis in die Gegenwart oder umgekehrt als Partizipation der Gegenwart an Geschichte. Ohne sie aus dem historischen Wandel zu isolieren, wusste Burckhardt jede historische Periode in ihrer Bedeutung für sich zu lesen und auch ihr Wiederauftauchen aus dem Ozean der Geschichte zu schätzen.
Installation Burckhardt
Landesmuseum Zürich
Ab dem 24. August können die Besucherinnen und Besucher in das Denken des Basler Historikers Jacob Burckhardt eintauchen. Die digitale Installation der Universität Basel ermöglicht jedoch nicht nur, die Gedankengänge von Burckhardt nachzuverfolgen, sie lotet auch die digitalen Möglichkeiten für die historische Forschung aus.