Wilde Tänze: Wohnen im Dorf nach 1968
Ende der 1960er-Jahre strebten viele nach neuen Lebensformen – nicht selten in billigen Häusern auf dem Land. Wohngemeinschaften konfrontierten an vielen Orten auch Bewohner kleinerer Dörfer mit dem Geist von 1968.
Wenn Dorfkinos in den 1970ern ihre Kasse aufstocken wollten, zeigten sie «Easy Rider» – das zog immer. Der Road-Movie von 1969 malte ein zwiespältiges Bild der Welt ausserhalb der Städte: Einerseits begann hier die Sphäre der Freiheit, durch die man mit seiner Harley düsen konnte – unbehindert von Stoppschildern und Ampeln. Aber es war auch eine Zone, in der Menschen von Dorfbewohnern niedergeschossen wurden, weil sie zu lange Haare hatten.
In den 1960er-Jahren wuchs auch in der Schweiz das Bedürfnis, jenseits der Kleinfamilie zu leben – in Wohngemeinschaften, politischen und künstlerischen Kollektiven, aber auch tatsächlich in Kommunen, die sich in Selbstversorgung versuchten. Genug erschwinglicher Platz für solche Experimente fand sich meist in kleinen Dörfern. Sergius Golowin, eine Art helvetischer Timothy Leary und nonkonformistischer Volkskundler, sah ihn diesen neuen Wohnformen um 1970 Wege zur Bewusstseinserweiterung. Er pries diese Orte als «Oasen», an denen sich die neu gebildeten Sippen der Subkultur trafen. Ihnen war tatsächlich eigen, dass sich zu den Bewohnern, die regelmässig dort wohnten, immer eine Summe von Gästen gesellte, die nur temporär, ein paar Tage, dort wohnten. Golowin schätzte die Anzahl der «neuen Nomaden», die so von Gemeinschaft zu Gemeinschaft zogen, auf eine Million in Europa.
Ein solches offenes Haus bestand von 1969 bis 1973 im Dorf Birmenstorf im Aargau. Fix wohnten dort in der Badenerstrasse 165 10 bis 15 Personen, den Kern der Gemeinschaft bildete die Band «Lovecraft». Im Keller war ein Musikraum, geschmückt mit Wandbehängen und Malereien – im obersten Stock gab es ein Matratzenlager. Die Bewohner und Bewohnerinnen reisten viel, lasen Hesse, Kerouac, Ghandi, aber auch asiatische Gedichte – in der WG war man auf der Suche nach sich selbst, nach neuen Idealen und Lebensmodellen. Das klappte nicht in allen Bereichen so gut. So war die Lebensgemeinschaft primär aus der Freundschaft der männlichen Bandmitglieder heraus entstanden – ihre Frauen und Freundinnen verband wenig mehr als ihre Männer. Deren Angebot, doch gemeinsam zu ihrer Musik zu tanzen, singen oder zu flöten, lehnten sie ab. Sie hatten mit Putzen, Waschen und Kochen auch schon genug zu tun: Bezüglich der Geschlechterrollen unterschied sich die «Oase» der Freiheit nicht so sehr von dem dörflichen Umfeld, in dem sie stand.
Zukunftsweisender ging es in anderen Bereichen zu. Die Bewohnerinnen und Bewohner assen vegetarische, wenn möglich makrobiotische Kost. Als die WG in Birmenstorf 1973 einem Umbau weichen musste, wurden Pläne für Selbstversorgung durchgespielt. Später betrieben einige der ehemaligen Bewohner einen der ersten Bioläden in der Region. Gegen Ende der 1970er-Jahre sang «Lovecraft» gegen die Atomkraft an. Der Song «Mer hend gnueg Schtrom, mer bruched kei Atom» schaffte es 1979, im Umfeld der so genannten Atomschutzinitiative, sogar zu einer Empfehlung im Tages-Anzeiger.
Der Blick der Dorfbevölkerung von Birmenstorf auf die «Kommune» blieb während der Zeit ihres Bestehens aber eher skeptisch. Die Bewohner wurden von einigen als «Kommunisten» und faule «Drecksäcke» beschimpft und ein Leserbrief gab der Hoffnung Ausdruck, dass die «Bande sich hier nie mehr blicken lässt und spurlos verschwindet, damit wir wieder einigermassen Ordnung bekommen». In der Wohngemeinschaft fürchtete man angesichts dieser Stimmung vor der Bildung einer Bürgerwehr – und Gewalt.
Doch dazu kam es nicht. Denn die Dorfbevölkerung schwankte durchaus zwischen Ablehnung und Faszination. Die Dorfjugend frequentierte die Konzerte im Haus ohnehin regelmässig, den Älteren bot sie Material für Klatsch und Tratsch und war nicht zuletzt auch eine Projektionsfläche für eigene Wünsche. Dass die Sehnsucht nach Ausbruch selbst die Damenriege von Birmenstorf erfasste, zeigte sich am Turnerabend: Hier wagte man Mitte der 1970er-Jahre mit Langhaarperücken, inspiriert von «Hair» – und wohl auch von den Nachbarn – einen «wilden Reigen» auf der Bühne.