Frauen im Streik!
Vor 100 Jahren legte eine Viertelmillion Menschen beim Landesstreik die Arbeit nieder. Welche Rolle spielten die Frauen in den drei Streiktagen im November 1918?
Am Nordbahnhof in Grenchen stand Hauptmann Theodor Schnider am letzten Landesstreiktag vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Erteilt er einen Schiessbefehl oder nicht? Demonstrierende errichteten eine Gleisblockade und Schnider hatte den Auftrag, mit seiner Kompanie den Bahnhof zu sichern. Ein Leutnant forderte den Schiessbefehl, Schnider entschied sich aber dagegen. Diesen Entscheid begründete er damit, dass sich unter den Streikenden auf den Schienen zuvorderst viele Frauen und Kinder befanden. Diese Episode zeigt nicht nur, dass Frauen an militanten Streikaktionen beteiligt waren, sondern auch, dass ihre Partizipation Auswirkungen auf den Ablauf der Ereignisse während der heissen Tage im November 1918 hatte.
Nicht nur bei dieser Gleisblockade in Grenchen waren Frauen mit dabei. Nimmt man die Aktivitäten von Frauen während des Landesstreiks in den Blick, so zeigt sich sowohl aufseiten der Streikenden als auch auf der bürgerlichen Gegenseite, dass Frauen eine nicht unwichtige Rolle spielten.
Die streikenden Frauen
Nach der Proklamation des Landesstreiks rief die sozialdemokratische Frauenagitationskommission die Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen dazu auf, sich aktiv am Streik zu beteiligen. Und dies taten die Frauen auch: Sie engagierten sich in der Lebensmittelversorgung, sowohl organisatorisch – in Zürich richteten sie im Volkshaus eigens eine Streiknotunterstützungskommission ein – als auch konkret beim Kochen am eigenen Herd. Sie organisierten die Kinderbetreuung: da die Schulen wegen der Spanischen Grippe geschlossen waren, kam der Kinderbetreuung in den Streiktagen eine wichtige Bedeutung zu. Damit Kinder nicht auf den Strassen mit dem Militär in Konflikt geraten würden, veranstalteten die sozialdemokratischen Frauenvereine in Zürich gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Schulverein und dem sozialdemokratischen Lehrerverein Zürich Ausflüge und zogen an den Nachmittagen mit den Arbeiterkindern ins Umland der Stadt. Frauen nahmen auch an den Streikversammlungen teil und organisierten zudem eigene Frauenversammlungen, um Unorganisierte für die Gewerkschaften und SP-Frauengruppen zu gewinnen. Gemeinsam mit den Männern zogen sie demonstrierend durch die Strassen und sie beteiligten sich an Gleisblockaden. Ferner standen sie auch Streikposten in Gasthäusern, um das von der Streikleitung verhängte Alkoholverbot durchzusetzen und versuchten die Soldaten dazu zu bringen, nicht gegen die Streikenden vorzugehen und bei einem allfälligen Schiessbefehl nicht oder in die Luft zu schiessen.
Das Dilemma der bürgerlichen Frauen
Auch auf der Gegenseite engagierten sich Frauen während der Landesstreiktage: Sie unterstützten die Armee und engagierten sich in der Pflege der grippekranken Soldaten. In Zürich richtete die Frauenzentrale, ein Zusammenschluss bürgerlicher Frauenorganisationen, gemeinsam mit dem Verband Soldatenwohl innert kürzester Zeit die Infrastruktur und Pflege für rund 2000 grippekranke Soldaten ein. Diese bürgerlichen Frauen lehnten den Streik vehement ab. Eine Forderung des OAK brachte gewisse Bürgerliche jedoch in eine Zwickmühle: Das aktive und passive Frauenwahlrecht stand an prominenter zweiter Stelle im Forderungskatalog. Viele kämpften seit Jahren für die Umsetzung dieser Forderung. Emilie Gourd, die Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht, machte ihre Sympathie mit der Forderung öffentlich und sandte gleich am ersten Tag des Landesstreiks, dem 12. November 1918, ein Telegramm mit dem Appell der Frauenstimmrechtsforderung stattzugeben an den Bundesrat. Bei den bürgerlichen Stimmrechtlerinnen rief diese Aktion gespaltene Reaktionen hervor: Während die einen Gourd für ihr angebliches Solidarisieren mit dem Streik kritisierten, lobten andere, Gourd hätte die Zeichen der Zeit erkannt und richtig gehandelt. Schliesslich wurde am 12. November 1918 sowohl in Deutschland als auch in Österreich das Frauenwahlrecht gesetzlich verankert.
Im Nachgang des Landesstreiks wurden zwei Motionen für das Frauenstimmrecht eingereicht, vom SP-Nationalrat Herman Greulich und vom freisinnigen Nationalrat Emil Göttisheim. Somit stand das Frauenstimmrecht erstmals in der Geschichte der Schweiz auf der Traktandenliste der eidgenössischen Legislative. Beide Motionen verschwanden aber unbehandelt in der Schublade des Bundesrats.
Auch wenn das Frauenstimmrecht nicht eingeführt wurde, erfuhren die Frauen den Streik keineswegs bloss als Niederlage. Die sozialistische Ärztin Minna Tobler-Christinger beschrieb die Erfahrungen von erlebter Gemeinschaft und gelebter Solidarität während des Streiks wie folgt: «Alle die mitmachten, waren Freunde geworden. Man drückte sich die Hand, lächelte einander zu. Mit Unbekannten führte man tiefgründige philosophische Gespräche. Man freute sich gemeinsam über einen gelungenen Streik.»