Das Bild der Schweiz in der Gottfried-Keller-Zeit
Er prägte das Bild der Schweiz im 19. Jahrhundert wie kein zweiter: der Zürcher Zeichner, Aquarellmaler und Kunstverleger Rudolf Dikenmann. Seine im Aquatintaverfahren produzierten Blätter kamen zu Tausenden auf den Markt: für Reisende, Sammler und Bürger.
Mitten durch das noch völlig unverbaute Limmattal und die Felder und Wiesen des Gebiets vor der Stadt, das seit 2005 als Zürich-West bezeichnet wird, rollt ein Dampfzug der Spanisch-Brötli-Bahn auf den 1847 erbauten Hauptbahnhof zu. Ein zweiter Dampfzug nähert sich vom Bahnhof her dem 1856 fertiggestellten Viadukt über die Limmat. Die Fahrt geht durch den Tunnel zwischen Wipkingen und Oerlikon in Richtung Winterthur und von dort nach Romanshorn. Der Blick aus dem über die Eisenbahnbrücke schnaubenden Zug auf die Stadt und die Alpen galt den Zeitgenossen als «Glanzpunkt der schweizerischen Eisenbahnen». Die Eröffnung der Strecke der Schweizerischen Nordostbahn von Zürich zum Bodensee wurde am 25. und 26. Juni 1856 mit einem Festumzug gefeiert, den Gottfried Keller in einem Festgedicht verewigt hat: «Denn fertig war das Eisenband / Das mit dem deutschen Nachbarland / Am blauen See die alte Stadt / Wegsam und neu verbunden hat.»
Die beiden Dampfzüge auf der 1847 eröffneten Strecke von Zürich nach Baden und auf der 1856 in Betrieb genommenen Strecke von Zürich über Winterthur nach Romanshorn sind die beiden Hauptereignisse in diesem repräsentativen Bild. Dieselbe Ansicht haben Dikenmann und andere bereits vor dem Bau des gebogenen Bahndamms und des Viadukts verlegt. Jetzt rückt der Zeichner Heinrich Siegfried die neuen Kunstbauten der Eisenbahn als visuelle Attraktionen ins Bild. Die Staffagefiguren im Vordergrund wirken zwar noch biedermeierlich. Aber es ist das Wachstumspotenzial zwischen Biedermeier und Gründerzeit, das ins Auge fällt. Sowohl von damals als auch von heute aus gesehen.
Der Dikenmann’sche Kunstverlag
Der Zürcher Kunstverlag von Rudolf Dikenmann (1793–1884) und seinem Sohn Johann Rudolf Dikenmann (1832–1888) prägte das Bild der Schweiz in der Gottfried-Keller-Zeit allein schon wegen der schieren Menge der in seinem Atelier produzierten Ansichten. Die «Stiche» wurden nach gezeichneten Vorlagen im Aquatintaverfahren produziert. Sie kamen zu Tausenden auf den Markt: im Petit- oder Folioformat, als Vignetten auf Briefbogen, als einfacher Schwarzdruck oder als schwarz-blauer Zweitondruck. Ein Teil der drucktechnisch hochwertigen Blätter wurde von den Töchtern Anna und Louise Dikenmann und von Dikenmanns jüngerem Bruder Johannes von Hand koloriert. Rudolf Dikenmann, der nach der Lehre bei Orell Füssli & Co. in Zürich bei Peter Birmann in Basel gearbeitet hatte, verfügte noch über das ganze «kleinmeisterliche» Know-how, obwohl die Zeit der Kleinmeister vorbei war. Der Dikenmann’sche Kunstverlag war der letzte Manufaktur- und Familienbetrieb seiner Art. Im satten, an die Emailmalerei erinnernden Kolorit der späten Blätter kündigte sich bereits der in Zürich entwickelte und ab 1888 bei Orell Füssli realisierte Fotochromdruck an.
Der Zufall will es, dass sich das Atelier und Geschäftsdomizil ab 1852 am Rindermarkt 14 in unmittelbarer Nähe des Hauses Zur Sichel am Rindermarkt 9 befand, in dem Gottfried Keller (1819–1890) fast 30 Jahre seines Lebens verbracht hatte. Keller entwirft in seinem teilweise autobiografischen Roman Der grüne Heinrich im Kapitel «Beginn der Arbeit – Habersaat und seine Schule» ein anschauliches Bild der Massenproduktion von Souvenirbildern mithilfe jugendlicher Koloristen. Keller, der selber ein Jahr lang bei einem «Kunstmaler» in der Lehre war, ohne dabei etwas zu lernen, hegte eine ausgesprochene Aversion gegen die Arbeit der «Koloristen» und gegen «Touristenstücke». Die Beschreibung des «wunderlichen Kunstspuks» im Atelier des fiktiven Meisters Habersaat im Grünen Heinrich ist zwar eine Karikatur, aber sie gibt einen Einblick in die Einrichtungen und in die Arbeitsabläufe in einem solchen Manufakturbetrieb.
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. 5. Kapitel: Beginn der Arbeit – Habersaat und seine Schule
«Es war ein Maler, Kupferstecher, Lithograph und Drucker in einer Person, indem er, in einer verschollenen Manier, vielbesuchte Schweizerlandschaften zeichnete, dieselben in Kupfer kratzte, abdruckte und von einigen jungen Leuten mit Farben überziehen liess. Diese Blätter versandte er in alle Welt und führte einen dankbaren Handel damit. (…). Das Haupttreffen dieser Armee bildeten vier bis sechs junge Leute, teils Knaben, welche die Schweizerlandschaften blühend kolorierten; dann kam ein kränklicher, hustender Bursche, der mit Harz und Scheidewasser auf kleinen Kupferplatten herumschmierte und bedenkliche Löcher hineinfressen liess, auch wohl mit der Radiernadel dazwischen stach und der Kupferstecher genannt wurde. (…) Endlich, im Rücken der ganzen Schar und alle übersehend, sass der Meister, Herr Kunstmaler und Kunsthändler Habersaat, Besitzer einer Kupfer- und Steindruckerei und sich zu allen gefälligen Aufträgen empfehlend, an seinem Tische mit den feinsten und schwierigsten Aufgaben, meistens jedoch mit seinem Buche, mit Briefschreiben und dem Verpacken der fertigen Sachen beschäftigt.»
Die Vitznau-Rigi-Bahn auf der Schnurtobelbrücke
Eines der am meisten besuchten Reiseziele der Schweiz in der Gründerzeit war die Rigi mit der 1871 als erste Bergbahn Europas eröffneten Rigibahn. Die von Mark Twain in seinem Reisebericht A tramp abroad beschriebene Fahrt in der Zahnradbahn über die Schnurtobelbrücke im Jahr 1878 muss ein atemberaubendes Erlebnis gewesen sein: «We got front seats, and while the train moved along about fifty yards on level ground, I was not the least frightened; but now it started abruptly downstairs, and I caught my breath. And I, like my neighbors, unconsciously held back all I could, and threw my weight to the rear, but, of course, that did no particular good. (…). By the time one reaches Kaltbad, he has acquired confidence in the railway, and he now ceases to try to ease the locomotive by holding back. (…). There is nothing to interrupt the view or the breeze; it is like inspecting the world on the wing. However – to be exact – there is one place where the serenity lapses for a while; this is while one is crossing the Schnurrtobel Bridge, a frail structure (…). One has no difficulty in remembering his sins while the train is creeping down this bridge.» Kein Wunder, wurde die auf der Schnurtobelbrücke talwärts kriechende Lokomotive mit dem stehenden Dampfkessel und dem offenen Personenwagen zu einem beliebten Sujet für Souvenirbilder. Rudolf Dikenmann zeichnete die Szene um 1880, als Vorlage für die Ausführung als Aquatintablatt.
Schiffsparade vor Rorschach
Ein besonders schönes Blatt aus dem Nachlass des Dikenman’schen Kunstverlags zeigt drei Raddampfer auf dem Bodensee. Zeichner ist der Rorschacher Landschaftsmaler und Verlagsmitarbeiter Joseph Martignoni. Die 1850 entstandene, aquarellierte Handzeichnung diente als Stichvorlage. Links im Bild liegt die Stadt Schaffhausen, das erste schweizerische Dampfschiff auf dem Bodensee, in der Bildmitte der 1838 in Betrieb genommene Glattdeckraddampfer Kronprinz. Die Kronprinz war der zweite Bodenseedampfer Württembergs und das erste von Escher Wyss in Zürich gebaute Bodenseeschiff. Rechts im Bild wohl die badische Stadt Constanz, allerdings mit bayrischer Flagge wiedergegeben. In Rorschach hatten die 1856 und 1858 eröffneten Linien der Vereinigten Schweizerbahnen von St. Gallen und von Chur her Anschluss an den Schiffsverkehr nach Deutschland.