Luzern, Paris, Giornico – Fabeltiere beflügeln
Diebold Schilling, Robert Lips, Umberto Eco, so verschieden die Autoren, so unterschiedlich ihre Deutungen mittelalterlicher Fabelwesen. Den Bergpreis erringt Eco mit einer steilen These. Doch mit Globi hält Lips das Rennen offen.
«Pictura est laicorum literatura.» Das Bild ist die Schrift der Laien. Wer nicht lesen kann, kann sehen, so die Überlegung. Jedenfalls physisch. Denn es macht einen Unterschied, ob wir Bilder – in unserem Fall steinerne mittelalterliche Skulpturen – bloss in den Blick nehmen oder ergründen, verstehen, interpretieren. Den Auftakt macht ein Fabeltier in einheimischen Gewässern.
Luzern – von weither schimmert die Morgenröte des Zweifels
Gewaltiglich, was sich 1491 in der Leuchtenstadt ereignet: Ein Drache schwimmt die Reuss hinunter! Das feuerspeiende Untier macht Furore, wird zum Stadtgespräch, findet 1513 Eingang in die monumentale Bilderchronik von Diebold Schilling (1460–1515).
Eine Zwickmühle. Der Chronist wird zwar von argen Zweifeln bedrängt, aber verzichten mag er auf die unerhörte Geschichte nicht. Schilling findet einen vierfachen Ausweg.
Erstens: Eine Sensation kann sich nicht «irgendwann» zugetragen haben. Das wäre verdächtig. Ein konkretes Datum muss her: 26. Mai 1491.
Zweitens: Der Chronist beruft sich auf fünf Augenzeugen auf der Reussbrücke, unter ihnen, in den Standesfarben blau-weiss, ein Stadtknecht. Das Ereignis wird also von Passanten und quasi von amtlicher Seite beglaubigt. Schilling muss dafür nicht persönlich geradestehen.
Drittens: Die unvermeidliche Frage, wie denn der «grosse ungehüre drack und wurm» ausgesehen habe, erübrigt sich. Das «wüst nieman eigentlich ze sagen vor schnelle sins schwimens, ouch tieffe des wassers». Was kann der Chronist dafür, dass der Lindwurm so schnell schwimmt und die Reuss so tief ist? Über den Nix gibt‘s nix zu berichten, basta.
Viertens: Schilling, der Fuchs, baut darauf, dass ein Hornvieh weitere unbequeme Fragen zerstampft. Im Elsass habe man «ein ochsen oder stierkopf gesaehen», ergänzt er, dem «ein staern zwüschend sine horn» gefallen sei. Doch wie gehabt: «Derselb verswand aber bald.» Da hilft auch nicht, dass der Chronist die Barfüsser in Basel zu Zeugen aufruft, die davon «warlich schribend».
Das macht: Wer so virtuos Zweifel ausräumt, zweifelt selber nicht zu knapp.
Abgrenzungen und Überlagerungen
Um den uferlosen Strom der Geschichte zu überblicken, müssen wir ihn in Abschnitte gliedern: bis hierher war die Welt so – ab hier ist sie so. Zahlreicher als solche Bruchlinien sind jedoch historische Überlagerungen.
Ulrich von Hutten (1488–1523), ein Zeitgenosse Diebold Schillings, ruft 1516 aus: «O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben. Ausgerottet und verjagt werden müssen diejenigen, welche sich als hindernde Wolke der aufgehenden Sonne der Bildung entgegen stellen.» Wenig später haben bei Paracelsus (1493–1541) Taubenmist und Schlangenblut als Heilmittel ausgedient. Der berühmte Arzt setzt chemische Medikamente ein, bestimmt ihre Dosierung experimentell und betont den Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Krankheiten.
Trotzdem berichtet Stadtschreiber Renward Cysat (1545–1614) noch Generationen später, im Sommer 1607 habe sich in Luzern «by nächtlicher wyl zuo ettlichen malen ein wunderbarlich und erschröcklich gespenst sehen lassen». In solcher Finsternis wird René Descartes (1596–1650) zum Leuchtturm, als er 1638 mahnt: «Nehmt keine Sache als wahr hin, von der ihr nicht bewiesen habt, dass sie es ist.» Der Durchbruch? Bis zum letzten Hexenprozess in Europa sollten noch 140 Jahre vergehen. Am 13. Juni 1782 stirbt Anna Göldi in Glarus durch das Schwert.
Paris – herrlich steht im Sonnenstrahle Notre-Dame, die Kathedrale
Bitte einsteigen! Wir fahren mit Globi nach Paris. 1946, der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Auch für den Schweizer Tausendsassa werden Reisen in europäische Metropolen wieder möglich.
Kultur kann selbst für Fabelwesen zur Attraktion werden. Globi liefert den leibhaftigen Beweis. Für die Erkundung der Notre-Dame ist ihm keine Mühe zu viel.
Vor dem Kunstwerk, so erhaben,
Pocht das Herz des Globi-Knaben.
Unser Freund besteigt im Sturm
Mit dem Guide den hohen Turm.
Der Aufstieg ist geschafft, die Aussicht imposant. Von der oberen Balustrade blickt Globi auf den gotischen Dachreiter. (Es handelt sich um jenen schlanken hölzernen Vierungsturm, der am 15. April 2019 einem Grossbrand zum Opfer fiel.) Eigentlich könnte Globis Erkundung hier zu Ende sein. Doch das Abenteuer beginnt erst so recht.
An den Türmen der Notre-Dame tummelt sich eine ganze Community von Fabeltieren. Globi deutet die Entstehung seiner entfernten Verwandten so:
Fratzen, Eulen, Drachen, Geier
Dienen hier als Wasserspeier.
Zur Erheiterung und Zier
Schuf der Steinmetz dies Getier.
Damit liegen zwei Erklärungen vor. Nach allgemeinem Tenor dienten die Fabelwesen der Abwehr von Schadenzauber, dem Fernhalten allerlei böser Geister. Nach Globis Meinung «schuf der Steinmetz dies Getier zur Erheiterung und Zier». Ende der Durchsage? Auftritt Umberto Eco. Aber wir müssen ihn zuerst nach Giornico holen.
Giornico und der Name der Rose
Mittelalterfeste, Mittelalterspiele, Mittelaltermärkte: In unserer Zeit wird mehr Mittelalter produziert, als es der Geschichte jener Zeit guttut. In Giornico ist das anders. San Nicolao muss nicht vorgeben, mittelalterlich zu sein. Die Kirche ist Mittelalter, um 1100. Die wenigen Veränderungen im Dachstock und im Chorbezirk fallen nicht ins Gewicht.
Fast mehr Tiere als Heilige
Von den Heiligen, die vom Wandgemälde im erhöhten Chorraum in feierlichem Ernst und würdiger Strenge herabblicken, geht es ohn‘ Unterlass zu den fast ebenso zahlreichen Tieren – unten in der Krypta, hinten am Taufstein, am Seiten- und Hauptportal: Drachen, Löwen, die Krallen scharf, die Augen gluh, allerlei gehörnte Vierbeiner, Haustiere. Dieses Bestiarium zieht den Betrachter in seinen Bann, unternimmt allerdings nichts, ihn erlösend zu erhellen.
Schwer unterschätzt: Der Hase
Kein Geringerer als der Löwe, König der Tiere, überwacht die Pforte zum Heiligtum. Was aber ist mit dem Hasen? Bei uns steht er kaum hoch im Kurs. Niemand möchte ein Angsthase sein, der immerzu gejagt wird, rasch die Flucht ergreift und sich mit wechselnden Haken zu retten versucht.
Andere Zeiten, andere Kulturen, andere Zuschreibungen. In der asiatischen Mythologie begleitet der «Mondhase» oft die Mondgöttin. Weit mehr als das: Mit Mörser und Stössel rührt er das «Lebenselixier» an. Das deckt sich mit der Zuschreibung von Fruchtbarkeit und Wiedergeburt im christlichen Kulturkreis. Was wäre Ostern ohne Hasen? Das Schokolade-Imperium Lindt verdient mit der Fruchtbarkeit seines «Goldhasen» so viel, dass selbst der Hasenstall aus purem Gold ist.
Stellvertreter von Atlas – und ein kryptischer Wald mit Tieren
Acht Säulen gliedern die dreischiffige Hallenkrypta von San Nicolao, als wären sie Bäume einer unterirdischen Allee, die den Kirchenbau im Erdreich verankern. In diesem steinernen Wäldchen hausen Steinböcke, Widder, Ziegen, Vögel und wiederum Löwen und Hasen. Ein katzenartiges Untier schreckt uns – oder fürchtet es sich selber, wenn ein Besucher die Krypta betritt?
Der mächtige Taufstein lässt unwillkürlich an die Bremer Stadtmusikanten denken, nur steht in Giornico die Tierwelt quasi Kopf: unten – mit gebogenem Schnabel, starken Zehen und Krallen – ein Greifvogel, oben ein Vierbeiner, halb Esel, halb Rind. Ob Globi am Ende doch Recht hat, wenn er meint, die Steinmetzen hätten diese Tierfiguren zur «Erheiterung und Zier» geschaffen?
Umberto Eco sieht das anders. Im Roman «Der Name der Rose» wird die Beschreibung des Kirchenportals zur hinreissenden Deutung: «Sämtliche Tiere aus Satans Bestiarium waren versammelt und postiert als Wache und Garde des Sitzenden auf dem Thron, seinen Ruhm zu singen durch ihre Unterwerfung.» Erst die Schauergesellschaft der niederen Kreaturen stellt die Erhabenheit Gottes ins richtige Licht. Je niedriger der Rang der Tiere, desto grösser der Abstand zu jenem Einen, Der Da Sass, endgültig zu richten über die Lebenden und Toten. Hören Sie Eco im O-Ton:
«Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode»
Ob George Lucas (*1944), der Schöpfer von Darth Vader, einen Hang zum pharaonischen Ägypten oder aber zur Feuerwehr hatte, bleibe dahingestellt. Was bei der Gegenüberstellung von Sphinx und Darth Vader anklingt, spricht für sich selbst. Die Sphinx, im 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland dargestellt als geflügelter Löwe mit Frauenkopf, ist Teil der Sage von Ödipus und erscheint dort als Ungeheuer, das alle verschlingt, die seine Rätsel nicht lösen können – eine wahrlich ungeheure Sanktion. Halten wir uns lieber an ihre sanfte Vorgängerin in Ägypten, an das universale Symbol für unergründliches Sinnieren.
Den Augen vertrauen
Zur stärksten Botschaft, zur tiefsten Empfindung wird oft, was sich nicht festlegen lässt. Musik zum Beispiel. Doch bleiben wir beim Stein. Fahren Sie (wieder einmal) nach Giornico, setzen Sie sich, direkt vor dem Haupteingang von San Nicolao, auf die warme Mauerbank, rostbraun geworden vom Bremsstaub der Gotthardzüge, und blicken Sie auf das Portal, noch und noch, immer wieder, als wollten Sie es innerlich festhalten. Eine Welt geht auf.