Gandhi in neuem Licht
Die Fotografien des Mahatma, aufgenommen vom Schweizer Fotografen Walter Bosshard, gingen um die Welt.
Walter Bosshard, aufgewachsen in einem kleinen Bauerndorf am Zürichsee, war ursprünglich Lehrer und hatte Kunstgeschichte studiert, als der Erste Weltkrieg ausbrach und ihn zu einer Neuorientierung veranlasste. Kurz nach Ende des Kriegs wanderte er nach Asien aus und versuchte sein Glück in verschiedensten Berufen: auf einer Plantage, im Edelsteinhandel sowie als technischer Leiter einer wissenschaftlichen Expedition. Um 1928/29 kehrte er nach Europa zurück und erkannte seine Chance im boomenden Fotojournalismus. Wer ein gutes Auge für spannende Bilder und Geschichten hatte und überdies noch Abenteuerlust und Cleverness mitbrachte, konnte rasch zu Erfolg und Berühmtheit gelangen. Bosshard galt schon damals als Asien-Experte. So kam er 1930 zu einem fantastischen Auftrag: Im Auftrag der Münchner Illustrierten Presse durfte er acht Monate lang Indien bereisen, um über die Unabhängigkeitsbewegung zu berichten.
Am 21. Februar landete der Schweizer Berichterstatter im Hafen von Bombay. Von hier aus fuhr er per Auto und Eisenbahn kreuz und quer durch Indien: Er legte über 20'000 Kilometer zurück, besuchte 10'000 Städte und Dörfer und führte mit mehr als 5'000 Menschen Gespräche, wie er später in seinem Buch Indien kämpft! festhielt. Neben Berichten über die dekadente britische Kolonialherrschaft oder das Leben in den Dörfern stand auch ein persönliches Treffen mit dem Anführer der Unabhängigkeitsbewegung auf dem Programm.
Schon am Abend des 11. März, am Tag bevor Gandhi zum legendären Salzmarsch aufbrach, kam es im Ashram von Sabarmati zu einer ersten Begegnung. Allerdings hatte Bosshard nur wenig Zeit für ein kurzes Interview – den Fotoapparat liess er noch beiseite. Er stellte dem Mahatma Fragen zur umstrittenen Salzsteuer und entlockte ihm eine generelle Einschätzung zur Lage Indiens. Aber am meisten beeindruckte ihn die Gelassenheit, mit der Gandhi während des Gespräches unablässig das Spinnrad surren liess und einen grossen Haufen ungesponnener Baumwolle verarbeitete.
Für seine zweite Begegnung mit dem Mahatma fuhr Bosshard an die Küste, wo der Protestmarsch enden sollte. Als er am 7. April im Hauptquartier der Unabhängigkeitsbewegung eintraf, erwartete ihn Gandhi mitten im Kreis seiner engsten Vertrauten. In der entspannten Atmosphäre hatte er einen ganzen Vormittag Zeit, um den Mahatma ungestört zu beobachten, ihm von Zeit zu Zeit Fragen zu stellen, dann aber auch wieder in den Hintergrund zu treten und die besondere Stimmung auf sich wirken zu lassen. Obschon Walter Bosshard eine eher schwerfällige Mittelformat-Kamera mit sich trug, bei der nach jeder Aufnahme eine neue Filmkassette eingelegt werden musste, gelang es ihm, sich so unauffällig zu verhalten, dass er mit der Zeit von Gandhi kaum mehr wahrgenommen wurde. Und nachdem er den Mahatma beim Essen, Lachen, Lesen, Diskutieren, Dozieren, Spinnen und Rasieren fotografiert hatte, wagte er sich sogar noch weiter vor: «'Kann ich auch noch ein Bild vom schlafenden Gandhi machen?', fragte ich den jungen Mann, der an der Türe stand. 'Wenn Sie es leise tun, können Sie's versuchen. Wecken Sie ihn aber nicht, denn er hat die Ruhe sehr nötig.'»
Auf diese Weise kam die Weltöffentlichkeit zur ersten «Homestory» über einen der berühmtesten Männer seiner Zeit. Die Münchner Illustrierte Presse publizierte sie in ihrer Ausgabe vom 18. Mai 1930, und sie war sich der Sensation durchaus bewusst. Auf ihrer Frontseite platzierte sie ein formatfüllendes Porträt des lesenden Mahatma, im Innern würdigte sie aber auch den Fotografen. «Unser Vertreter W. Bosshard ist der einzige europäische Berichterstatter, der von Gandhi während der ungesetzlichen Salzgewinnung in seinem Lager an der Küste empfangen wurde», lautete die Schlagzeile unter dem fetten Titel «Mahatma Gandhi privat!».
Dabei bekam die Leserschaft der Münchner Illustrierten nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus der Arbeit zu sehen, die Walter Bosshard an jenem Vormittag vollbracht hatte. Gewiss, die fünf Bilder mit sehr persönlichen Szenen und Handlungen, die in der Zeitschrift abgedruckt wurden, genügten, um Aufsehen zu erregen. Auf der einen Seite las man von der mächtigen politischen Figur Gandhi, dem «Mann, der das britische Weltreich herausgefordert hat»; auf der anderen Seite begegnete man in Bosshards Fotografien einem einfach und bescheiden auftretenden Menschen, der sehr alltägliche Bedürfnisse hatte und sich in philosophischer Würde ganz auf das Wesentliche besann. Lesen, essen, schlafen sind die wenigen, zentralen Aktivitäten der veröffentlichten Bildgeschichte. Doch das milde Licht, das in den geschlossenen Raum eindringt und sich in den weichen, weissen Falten der uniformen Baumwollgewänder bricht, gibt den simplen Handlungen eine vergeistigte, ja meditative Dimension. Es ist nicht zuletzt diese hoch konzentrierte, meisterhaft eingefangene Stimmung, durch die Bosshards Bildbericht aus der Flut der täglichen Nachrichten herausstach.