Haile Selassie I. in der Limousine während seines Staatsbesuchs in Bern am 25. November 1954.
Haile Selassie I. in der Limousine während seines Staatsbesuchs in Bern am 25. November 1954. Seine Kopfbedeckung ist mit einer Löwenmähne dekoriert. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Kaiser Haile Selassie, Gott der Rastafaris

Der 1930 in Addis Abeba zum «König der Könige» gekrönte Kaiser Haile Selassie (1892–1975) galt in Äthiopien als von Gott auserwählt. Die Rastafari auf Jamaica «erkannten» ihn sogar als ihren Messias und Gott an. Ein Blick auf die beiden «Karrieren» einer ebenso beeindruckenden wie umstrittenen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts.

Murielle Schlup

Murielle Schlup

Freischaffende Kunsthistorikerin und Kulturwissenschaftlerin

«Conquering Lion of the Tribe of Judah and King of Kings of Ethiopia, Lord of Lords and Elect of God», so lautete von 1930 an der vollständige Titel des Tafari Makonnen, der 1892 in der äthiopischen Provinz Harar das Licht der Welt erblickte und 37 Jahre später der letzte Throninhaber des fast 3000 Jahre währenden Kaiserreichs Äthiopiens werden sollte. In Harar amtierte sein Vater Ras Makonnen Woldemikael als Gouverneur. Tafaris Mutter verstarb, als er zwei Jahre alt war. Nach dem Tod des Vaters nahm dessen Cousin, Kaiser Menelik II., der selber keine Söhne hatte, den jungen Tafari am Hof in Addis Abeba zur Erziehung auf. Es folgten jahrelange familiäre und höfische Intrigen, in deren Folge Tafari Makonnen 1917 als Regent neben der neu gekrönten Kaiserin Zauditu, der ältesten Tochter Meneliks II., eingesetzt wurde. Ihr Thron stand jedoch von Anfang an auf wackeligen Beinen.
Tafari und sein Vater, vor 1905.
Tafari (links) und sein Vater, vor 1905. Wikimedia
Ras Tafari Makonnen (links) und Kaiserin Zauditu, 1917.
Ras Tafari Makonnen (links) und Kaiserin Zauditu, 1917. Wikimedia

Die Krönung zum «König der Könige»

Weitere, teils blutige Machtspiele später, gewann der ambitionierte und geschickte Strippenzieher Tafari Makonnen, der inzwischen wie sein Vater den Titel Ras (Herzog, Fürst) führte, am Hof immer mehr Rückhalt, Einfluss und Macht. 1928 liess er sich durch – die inzwischen in ihrer Machtposition und Gesundheit geschwächten – Kaiserin Zauditu zum Negus (König) krönen. Sie hatte ihm dadurch faktisch die Staatsmacht übergeben. Als Kaiserin blieb sie nominell Staatsoberhaupt – jedoch nur noch für kurze Dauer. Nach dem nie vollständig geklärten Tod der Kaiserin wurde Negus Tafari Makonnen am 2. November 1930 in Addis Abeba zum «Negusa Negast» («König der Könige»), zum Kaiser Äthiopiens gekrönt. Die siebentägigen Krönungsfeierlichkeiten mit viel Brimborium und ranghohen europäischen Gästen, darunter auch offiziellen Vertretern der Kolonialmächte Frankreich, Grossbritannien und Italien, erregten weltweit Aufsehen. Der Thronname des neuen Machthabers lautete Haile Selassie I., was aus dem Amharischen übersetzt «Macht der Deifaltigkeit» bedeutet. Nach Bescheidenheit klingt dieser selber gewählte Name nicht. Für einen «Auserwählten Gottes» – als solche galten traditionell alle äthiopischen Kaiser – erstaunt die Wahl hingegen nicht sonderlich. Viel mehr interessiert, wie sich dieser «göttliche Machtanspruch» ableitete.
Die Krönung von Kaiser Haile Selassie I. 1930. YouTube

Spross der Königin von Saba und des Königs Salomon

Das Christentum ist in Äthiopien – neben Armenien und Georgien einer der ältesten christlich geprägten Staaten der Welt – seit der Mitte des 4. Jahrhunderts Staatsreligion. Zugleich amtierte der in seiner Macht uneingeschränkte Kaiser als Oberhaupt der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Die äthiopischen Kaiser wurden seit 1270 durch die Salomonische Dynastie gestellt. Deren Herrschaftsanspruch gründet im Nationalepos Äthiopiens, im Ende des 13. Jahrhunderts verfassten «Kebra Negast» («Ruhm der Könige»). Darin ist von der legendären, auch im Alten Testament erwähnten Königin von Saba die Rede, Herrscherin über ein grosses, sich von Südarabien bis Äthiopien erstreckendes Reich. Nach einem Treffen mit dem biblischen König Salomon, Anführer des israelitischen Stammes Juda, soll sie zurück in ihrer Heimat dessen Sohn Menelik I. zur Welt gebracht haben. Dieser besuchte gemäss Legende als junger Mann seinen Vater in Jerusalem, wo er von ihm zum ersten Kaiser Äthiopiens gekrönt worden sein soll.
Die Königin von Saba trifft König Salomon: Ausschnitt aus Lorenzo Ghibertis Paradiestüre am Baptisterium San Giovanni, Florenz, 1425–52.
Die Königin von Saba trifft König Salomon: Ausschnitt aus Lorenzo Ghibertis Paradiestüre am Baptisterium San Giovanni, Florenz, 1425–52. Wikimedia
Haile Selassie galt als Vertreter der Solomonischen Dynastie und als 225. Nachfolger König Salomons und der Königin von Saba. Wie alle äthiopischen Kaiser bezeichnete er sich als «Siegreicher Löwe des Stammes Juda». Der bekrönte, zeptertragende Löwe war denn auch auf der äthiopischen Flagge abgebildet.
Nationalflagge des Kaiserreichs Äthiopien dem Löwen Judas in der Zeit von 1897 bis 1936 und 1941 bis 1974.
Nationalflagge des Kaiserreichs Äthiopien dem Löwen Judas in der Zeit von 1897 bis 1936 und 1941 bis 1974. Wikimedia

Zur gleichen Zeit auf Jamaica

Auf Jamaika, einem Inselstaat in der Karibik rund 12'000 Kilometer von Äthiopien entfernt, verselbstständigte sich zur gleichen Zeit ein weitere «Karriere» Haile Selassies: jene zum Messias und Gott. Dies ohne jegliche aktive Beteiligung des Herrschers. Eine in den 1920er-Jahren geäusserte Prophezeiung des Politaktivisten Marcus Garvey (1887–1940) wird in vielen Quellen gerne als Ursprung der göttlichen Verehrung Haile Selassies erwähnt: «Look to Africa, when a black king shall be crowned, for the day of deliverance is at hand». Der Vater der «Back-to-Africa»-Bewegung und des Äthiopianismus auf Jamaica sagte die Krönung eines mächtigen schwarzen Königs voraus, der die ersehnte Rückkehr nach Afrika und die Befreiung der Schwarzen aus der kolonialen Unterdrückung herbeiführen würde. Die christianisierten Nachfahren der aus Afrika verschleppten Sklaven in den Slums von Kingston und im urwaldigen Landesinneren – darunter viele Nachfahren sogenannter Maroons – liess die Voraussage einer besseren Zukunft auf dem Kontinent ihrer Wurzeln Hoffnung auf ein besseres Leben schöpfen. Im biblischen Auszug aus Ägypten (Exodus) und in der Rückkehr aus dem babylonischen Exil sahen sie Vorbilder für ihren eigenen Kampf gegen die Unterdrückung, wobei Äthiopien, das als einziger afrikanischer Staat nie kolonisiert worden ist, zum «Heiligen Land» (ver)erklärt wurde (während Jamaika noch bis 1962 eine britische Kolonie geblieben ist).
«Time Magazine», 6.1.1936, Volume XXVII, Nr. 1, Titelseite.
Aufgrund Haile Selassies Einsatz für sein Land gegen die faschistischen Aggressoren – Äthiopien war von 1936 bis 1941 durch Mussolinis Truppen besetzte, der italienische König Viktor Emanuel III. liess sich als Kaiser Abessiniens» ausrufen und Haile Selassie lebte in London im Exil – bringt das «Time Magazin» eine Titelgeschichte zum Thema «Man of the Year». «Time Magazine», 6.1.1936, Volume XXVII, Nr. 1, Titelseite. Wikimedia

Haile Selassie und die Rastafaris

Die Kaiserkrönung des Haile Selassie galt als Erfüllung Garveys Prophezeiung unter einer immer grösser werdenden Gruppe, deren Bezeichnung sich von Haile Selassies ursprünglichem Namen und Titel – Ras Tafari Makonnen – ableitet: die Rastafaris, kurz Rastas. Deren im Christentum wurzelnde Glaubensrichtung mit alttestamentarischen und apokalyptischen Bezügen sowie durchdringt von einem «schwarzen messianischen Mystizismus» lehrt die Göttlichkeit des Haile Selassie, dessen Krönung als die in der Bibel angekündigte Wiederkehr Jesu Christi gilt. Oder anders gesagt: drei Mal, so glauben die Rastafaris, sei Gott in Form eines Menschen auf der Erde erschienen: zunächst in der Gestalt des alttestamentarischen Melchisedek, dann als Jesus Christus und schliesslich als Haile Selassie. Auch die Natur leistete in der Form eines «göttlichen Zeichens» gleich zweimal ihren Beitrag, dass die Rastafaris in Haile Selassie ihren menschgewordenen Gott (Jah) bestätigt fanden: Im Jahr 1930 herrschte in Jamaica eine extreme, langanhaltende Dürre. Doch unmittelbar nach Bekanntwerden der Kaiserkrönung setzte auf der Insel der ersehnte Regen ein. Ein weiteres Ereignis, dass der Rastafari-Bewegung Auftrieb verlieh, fand am 21. April 1966 statt. An diesem Tag wurde Haile Selassie auf Jamaika als Staatsgast erwartet. Mehrere Zehntausend Rastafaris auf dem Flughafen in Kingston «erkannten» ihren wiedergekehrten Messias unter lautem Jubelgeschrei, nachdem dessen Flugzeug just in dem Moment landete, als die Sonne nach mehrstündigen Regenschauern wieder zu strahlen begann. Der Tag wird seither als Grounation Day gefeiert und gilt als der zweitwichtigste Feiertag der Rastas nach dem 2. November, dem Tag der Kaiserkrönung.
Video mit der Landung Kaisers Haile Selassies auf Jamaika anlässlich seines Staatsbesuchs 1966. YouTube

Reggae, die Musik der Rastafaris

Den allermeisten ist die Rastafari-Glaubensbewegung nur über ein äusserliches Merkmal vieler Rastas, die Dreadlocks, oder über deren Musik, den Reggae, bekannt, dessen populärster Vertreter bis heute Bob Marley (1945-1981) ist. Aus den Slums in Kingston zu Weltruhm aufgestiegen, war er massgeblich mitverantwortlich, dass der Rastafarianismus von der Popkultur vereinnahmt und weltweit verbreitet wurde. Seine Konzerte startete Marley jeweils mit der Begrüssung «Greetings in the Name of His Imperial Majesty Emperor Haile Selassie the First, Jah Rastafari». («Seid gegrüsst im Namen von Kaiser Haile Selassie, dem Gott der Rastafaris»). Seine Liedtexte orientierten sich oft an Haile Selassies Person und Wirken sowie und an dessen Reden. Ein bekanntes Beispiel ist der Reggae-Klassiker «War», 1976 erschienen auf dem Album «Rastaman Vibration». Der Text basiert auf Haile Selassies ikonische Rede mit dem aus dem Amharischen übersetzten Titel «What Life Has Taught Me About the Question of Racial Discrimination», die Haile Selassie 1963 in New York vor den Vereinten Nationen hielt:
Bob Marley singt «War». YouTube

Sturz und Tod Mitte der 1970er-Jahre

Im Ausland galt Haile Selassie bis Ende der Sechzigerjahre als aufgeklärter, moderner Herrscher, mit dem man sich gerne auf dem roten Teppich zeigte. Doch bei Hof ging es feudal und vorgestrig zu, was im Laufe der Zeit immer mehr Unmut auslöste, auch unter seiner engsten Gefolgschaft. Macht zu teilen, ja sogar abzugeben war für Haile Selassie undenkbar, ebenso war er Reformen abgeneigt. Einerseits hat er Addis Abeba aus dem Mittelalter geführt und über weite Strecken modernisiert. Andererseits stand in den Provinzen die Zeit still. Anfang der 1970er-Jahre gehörte Äthiopien nach wie vor zu den ökonomisch rückständigsten Ländern der Welt. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf war das niedrigste Afrikas. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei knapp 30 Jahren. 60 Prozent aller Neugeborenen starben vor dem ersten Altersjahr. Die Inflation infolge der Ölkrise und die Hungerkatastrophe nach wiederholten Dürreperioden lösten 1973 Massendemonstrationen und Studentenunruhen aus. Teile der Armee revoltierten, bis sich 120 Offiziere, darunter der spätere Diktator Mengistu Haile Mariam, gegen den Kaiser verschwörten und diesen am 12. September 1974 stürzten. Mengistu hielt den Kaiser im Palast unter Hausarrest. Am 27. August 1975 fand ihn ein Diener tot im Bett auf. Es gilt heute als gesichert, dass der altersschwache 83-Jährige mit einem Kissen erstickt worden ist. Sein Leichnam liess Mengistu unter den Dielen einer Palasttoilette verscharren.
T-Shirts mit Haile Selassie zum Verkauf in Harlem, New York, 2021.
T-Shirts mit Haile Selassie zum Verkauf in Harlem, New York, 2021. Library of Congress

Haile Selassies Unsterblichkeit

Seiner Verehrung als Gott durch die Rastafari auf Jamaica taten die Ereignisse Mitte der 1970er-Jahre jedoch keinen Abbruch. Sein irdischer Tod und sein umstrittener Ruf liessen die streng gläubigen Rastas nicht an Haile Selassies Göttlichkeit zweifeln. Der Rastafarianismus ist bis heute in voller Blüte und wird durch seine Anhängerschaft mittlerweile weltweit kultiviert. Unsterblichkeit verleiht Haile Selassie auch der Reggae, dem es an Nachwuchs nicht fehlt. Zu den jungen Grössen gehört etwa der jamaikanische Musiker Chronixx. Vor seinem Konzert im Dachstock der Reitschule Bern im September 2014 machte sein Tourbus auf dem Weg von Zürich nach Bern Halt für einen Besuch der Sonderausstellung «Ein Kaiser zu Gast. Haile Selassies Staatsbesuch 1954» im Schloss Jegenstorf. Dieses ist für die Rastas aus aller Welt eine Art Pilgerstätte, da es Kaiser Haile Selassie während seines Staatsbesuchs vom 25. bis zum 28. November 1954 als Residenz diente.
Chronixx (links) mit Angehörigen seiner Band vor dem Haupteingang von Schloss Jegenstorf.
Chronixx (links) mit Angehörigen seiner Band vor dem Haupteingang von Schloss Jegenstorf. Das Dreieckhandzeichen bedeutet «Macht der Dreifaltigkeit» – die deutsche Übersetzung des amharischen Thronnamens «Haile Selassie». Murielle Schlup

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