In Grenchen kommt es am letzten Streiktag zum Schusswaffengebrauch der Ordnungstruppen gegen Demonstranten. Drei unbeteiligte Zivilisten sterben.
Streikalbum, Kulturhistorisches Museum Grenchen

Fiebriger November

November 1918: In der Schweiz grassiert das Fieber. Nicht nur gesundheitlich, sondern auch gesellschaftlich. Beim Landesstreik steigt die Fieberkurve steil nach oben.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Husten, Fieber, Gliederschmerzen: Die Grippe schwappte über die Schweiz. Der Verlauf war schnell, die Ansteckung leicht, bei manchen verfärbte sich die Haut ins Blaue. Fiebrig war aber auch die Stimmung am Bahnhof von Grenchen Nord. 2000 Demonstranten hatten sich dort versammelt – 2000 Demonstranten und ein Armeebataillon. Das Militär verlangte, dass der Platz geräumt wurde. Widerstand, Beschimpfungen, obszöne Gesten: Die Lage war unübersichtlich und die Gruppen bewegten sich chaotisch. Plötzlich fand sich ein Teil der Soldaten isoliert und in Unterzahl. Sie schossen zunächst in Luft. Dann auf die Demonstranten. Drei Unbeteiligte sanken zu Boden.

Grund der Demonstration war die Misere. Die Leute hatten es satt: den Krieg, die Armut, die Armee. Und dass sich ein paar wenige an der Kriegswirtschaft eine goldene Nase verdienten, während die allermeisten kaum noch wussten, wie sie über die Runden kamen. Wiederholt gab es lokale Streiks. Und während im übrigen Europa der Frieden in Griffweite rückte, rückte in Zürich die Armee ein. Es gab Provokationen und Schlägereien.

Für den 9. November rief Arbeiterführer Robert Grimm einen eintägigen Generalstreik aus. Am 11. November verkündeten die Kirchenglocken das Kriegsende und am 12. November streikten erneut rund 250'000 Personen. Ihre Forderungen waren vielfältig: Neuwahl des Nationalrats im Proporzsystem, Frauenstimmrecht, Alters- und Invalidenversicherung, 48-Stunden-Woche. Der Bundesrat ging nicht darauf ein. Er forderte am 13. November den bedingungslosen Streikabbruch und am Morgen des 14. Novembers gaben Grimm und seine Mitstreiter nach. Nur war die Kunde davon in Grenchen noch nicht angekommen, als die verheerenden Schüsse fielen. Gut möglich, dass der Bote, der es hätte melden sollen, mit Grippe im Bett lag.

Plakat der Gemeinde Hinwil, November 1918.
Schweizerisches Nationalmuseum

Überhaupt forderte die Krankheit mehr Opfer als der Landesstreik. Zwei Drittel der Bevölkerung erkrankten und von tausend Infizierten starben etwa 25. Aber während gewöhnliche Grippen besonders Kleinkinder und Alte bedrohen, fielen der «spanischen Grippe» vor allem Menschen mittleren Alters zum Opfer. Insgesamt raffte die Epidemie gegen 25'000 Menschen dahin und in manchen Dörfern ging die Bevölkerung empfindlich zurück. Damit war die Influenza von 1918 die schlimmste Seuche seit der Pest.

Die direkten Folgen des Streiks waren weniger drastisch und, zunächst jedenfalls, weniger spürbar. Doch in den nächsten Jahrzehnten wurden viele der Forderungen von 1918 erfüllt. Der Bundesrat war klug genug, stärker auf die Anliegen der Arbeiter zu achten, und die Arbeitgeber schlossen in verschiedenen Branchen Gesamtarbeitsverträge ab. Das war einer der Gründe, warum Streiks für Jahrzehnte praktisch verschwanden.

Der Landesstreik auf dem Zürcher Paradeplatz.
Wikimedia

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