Musselin-Ensemble für eine Modeschau. Collection haute couture, Frühling-Sommer 2002.
© Yves Saint Laurent, Foto: © Sophie Carre (2019)

Yves Saint Laurent als Botschaf­ter für Seide aus Lyon

Soie ou saucisson – in den traditionellen Lyoneser Familien gehörte man entweder zur Seiden- oder zur Wurstfraktion. Beide haben die wirtschaftliche Entwicklung dieser Stadt geprägt. Was die Seidenfraktion mit dem berühmten Modeschöpfer Yves Saint Laurent verbindet, erfährt man nun im Musée des tissus in Lyon.

Hibou Pèlerin

Hibou Pèlerin

Seit vielen Jahren fliegt Hibou Pèlerin zu kulturhistorischen Ausstellungen. Für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums greift sich Pèlerin die eine oder andere Perle raus und stellt sie hier vor.

Achtzehneinhalb Meter mauvefarbene Seidenmousseline, diverse andere Stoffe für Futter und Montage, neunzig Arbeitsstunden: Das sind die Grobdaten für ein Abendkleid von Yves Saint Laurent aus seiner letzten Haute-Couture-Kollektion 2002, das nun in Lyon gezeigt wird. Sie wurden von seinem Atelier auf einer «Fiche», einer Karteikarte, zusammen mit seiner Bleistiftskizze des zu realisierenden Modells und einer kleinen Stoffprobe festgehalten. Bewundernd steht man vor dieser botticellihaften Schöpfung. Dann wandert der Blick zu den anderen Gästen der Ausstellung, die wie man selber mehr oder weniger billige Kleider aus der heutigen Massenproduktion tragen. Irgendwas Funktionales mit Sneakers. Man blickt zum Olymp und zugleich in die Abgründe einer Disziplin namens Mode.

Diese Abgründe haben mit der Krise der europäischen Mode- und Textilindustrie im 20. Jahrhundert zu tun, nachdem sie im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution ausgelöst hatte. Seit den 1990er-Jahren hat sie sich mit der Verlagerung der Produktion in asiatische Billiglohnländer verschärft. Mit der Gesellschaft hat sich aber auch das Verständnis von Mode gewandelt. Wer unterwirft sich heute noch einem Modediktat Made in France, wie es zuletzt nach dem 2. Weltkrieg nochmals angestrebt wurde? Längst gibt der Streetstyle den Takt vor. Zugleich werden sozialpolitische und ökologische Einwände lauter: Das Konzept der Mode, im Frankreich des 17. Jahrhundert zwecks Ankurbelung der Wirtschaft entwickelt, das in der scheinbar demokratischen Billigmode kulminiert, fördert Ausbeutung und Wegwerfmentalität. Wer bezahlt dafür? Ist das Konzept nicht generell überholt?

Die prachtvolle Schau zu Yves Saint Laurent im 1864 gegründeten Musée des tissus von Lyon, das weltweit eine der bedeutendsten Sammlungen seiner Art beherbergt und für sich sehenswert ist, stellt diese Fragen in der laufenden Ausstellung nicht direkt. Aber sie können einem angesichts der Präsentation der Haute Couture des grossen Modeschöpfers, einem Märchen aus einer anderen Zeit, schon durch den Kopf gehen. Vor allem an diesem Ort, in der Stadt der Seidenweber und ihrer Aufstände gegen die Ausbeutung. Einem Ort, wo man den – im Museum ausgestellten – innovativen Jacquard-Webstuhl erfand, der mit seinen Lochkarten das Prinzip moderner Computerprogramme vorwegnimmt. Die Idee war, nicht nur die Handarbeit, sondern auch aufmüpfige Arbeiter entbehrlicher zu machen.

Yves Saint Laurent in seinem Büro an der avenue Marceau in Paris, 1986. Fotograf unbekannt.
© Alle Rechte vorbehalten

Die Fragen zum tiefgreifenden Wandel in Mode und Textilindustrie ergeben sich indirekt durch das geschickte Konzept der Ausstellung: Es verbindet das sinnliche Vergnügen der Inszenierung einer stattlichen Zahl edelster Kleider und Roben von YSL, wie er kurz genannt wird, mit einem höchst aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen der Produktion. Damit wird der Personenkult weitgehend umschifft. Am ehesten wird er noch spürbar, wenn von der Bedeutung der sinnlichen Wirkung des Materials für Yves Saint Laurent die Rede ist. Schon bei der Wahl der Stoffe und bei den ersten Anproben war es ihm auch wichtig, mit lebenden, ihm vertrauten Mannequins zu arbeiten statt mit Kleiderpuppen. Von Anfang an ging es ihm um das Zusammenspiel von Stoff, Mensch und Bewegung.

«Ich sehe Stoffe, und daraus entsteht die Idee für ein Kleid», soll schon der Zwanzigjährige gesagt haben. Als Teenager im heimatlichen Oran (Algerien) experimentierte er mit Papierpuppen. Durch die Modemagazine seiner Mutter eignete er sich präzise Kenntnisse über die damals wichtigen Akteure der Pariser Modeszene an. Man steht verblüfft vor seinen entsprechend beschrifteten «poupées». Sie zeigen, mit welch traumwandlerischer Sicherheit der junge Saint Laurent vorging, um sich ins Zentrum der nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufblühenden Pariser Modemaschinerie zu katapultieren. Zunächst wirkte er als Assistent von Christian Dior, den er nach dessen frühen Tod ablöste. Schon die frühesten Beispiele zeigen, welch exzellenter Zeichner er war. Die späteren Entwürfe bestätigen das: Ein paar so locker wie sicher hingefetzte Striche, und die Richtung, in der seine Atelierchefinnen und -chefs einen ersten Entwurf entwickelten, den er dann weiter verfeinern konnte, war offenbar wesentlich klarer als bei vielen seiner Kollegen im Métier.

Blick in die Ausstellung «Yves Saint Laurent. Les coulisses de la haute couture à Lyon».
© Musée des Tissus Lyon / Pierre Verrier

Anhand ausgewählter Beispiele wird gezeigt, welch komplexes Zusammenspiel er auch mit den Lieferanten entwickelte. Mit der Lyoneser Seidenindustrie ging er eine regelrechte Symbiose ein. Das Modehaus wurde von dieser indirekt mitfinanziert. Denn die Haute-Couture, von exklusiven Fotografen wie Claus Ohm fotografiert, funktionierte nicht nur als Werbeträger für die billigeren (prêt-à-porter) Kleiderlinien oder Parfums, Kosmetik und Accessoires des Modeschöpfers. Die für die Branche wichtigen Magazine druckten neben dem Namen Yves Saint Laurents jeweils jene der Stofflieferanten. Das war die allerbeste Werbung für diese Seidenfirmen. Natürlich war sie ein wenig irreführend, denn man konnte kaum das gezeigte Muster bestellen. Besondere Dessins wurden nur exklusiv, in exakt limitierter Metrage für den Couturier hergestellt.

Modellskizzen von Yves Saint Laurent mit Stoffmustern, 1985-1991 (Faksimile).
Schweizerisches Nationalmuseum

Hinter der Marketing-Symbiose steckte ein kompliziertes Pingpong. Ministoffproben, Entwürfe, Farbkarten wurden in der äusserst knappen Zeit einer Saison zwischen den Stoffproduzenten und den Atelierchefinnen, Chefschneiderinnen sowie dem alles entscheidenden Couturier hin- und her gespielt. Als Nadelöhr fungierten dabei Händler, die selber keine Webereien besassen, aber als Broker fungierten. Unter diesen konnte sich die Zürcher Firma Abraham dank besonders guter Beziehungen zwischen ihrem Besitzer Gustav Zumsteg und Yves Saint Laurent in Lyon eine Vorrangstellung erarbeiten. Zumstegs Trumpf war neben einem perfekten Überblick über die Spezialitäten und Novitäten der verschiedenen Stofflieferanten seine genaue Kenntnis der Vorlieben des Couturiers.

Es liegt ein wenig Melancholie über all dieser Pracht. Ein Modeschöpfer, der mit teuersten Stoffen und delikaten Blumenmustern umgeht wie ein Künstler mit einer Palette: Das passt zu einer feudalen Gesellschaft mit entsprechenden Anlässen, zu denen die zum Teil opernhaften Kreationen überhaupt getragen werden können. Besser, man behandelt sie von Anfang an wie Kunstwerke. Tatsächlich war das auch Yves Saint Laurent bewusst. Denn manche seiner Kreationen hat er schon auf der Atelier-Karteikarte mit dem Vermerk «Musée» versehen. Damit war die hauseigene Dokumentation gemeint, aus der inzwischen das Musée Yves Saint Laurent in Paris hervorgegangen ist.

Mit dem Fokus auf Saint Laurents besonderes Verhältnis zur Lyoneser Seidenproduktion wird, etwas einseitig, die Materialsensibilität des Modeschöpfers betont. Sein ausserordentlicher Rang für die Modegeschichte im 20. Jahrhundert verdankt sich allerdings mindestens so sehr seiner gesellschaftlichen Sensibilität. Seine wirklich bahnbrechende Schöpfung war der Hosenanzug für Frauen, passend zu dem von ihm bevorzugten androgynen Frauenbild. Das kommt in Lyon weniger zum Zug. Was aber gut beleuchtet wird, ist das Konzept von Haute Couture als höchst raffinierter Form des Stoff-Marketings. Wie jedes gute Marketing setzt es auf süffige Geschichten. Das bleibt gültig, auch wenn heute die Geschichten und die Kanäle dafür längst andere sind. Das Modemarketing findet in den social media statt und – im Museum.

Kleid, getragen von Natacha. Collection haute couture, Herbst-Winter 1992.
© Alle Rechte vorbehalten, Yves Saint Laurent

Ensemble, getragen von Ann-Fiona Scollay. Collection haute couture, Frühling-Sommer 1990.
© Alle Rechte vorbehalten, Yves Saint Laurent

Yves Saint Laurent Les coulisses de la haute couture à Lyon

Musée des tissus, Lyon

bis 8. März 2020

www.museedestissus.fr

Hinweis: Texte zur Ausstellung nur auf Französisch und Englisch.

Wer sich für die Geschichte des Faltenwurfs in der Kunst interessiert, wirft noch einen Blick in die umfassende Sonderausstellung «Drapé» im Musée des Beaux-Arts de Lyon (bis 8. März). Die verrücktesten Kopfbedeckungen aus aller Welt präsentiert das Musée des Confluences mit der einzigartigen Sammlung von Antoine de Galbert (bis 15. März).

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