Die «Könige» von Genf
Die «Exercice de l’Arquebuse» war eine Genfer Bruderschaft, die bis 1782 jährlich nach einem Schützenfest einen «König» krönte. Zeitweise führte sich dieser wie ein Herrscher auf.
Die Bruderschaft der vornehmen «Exercice de l’Arquebuse» ist eine militärische Gesellschaft in Genf mit einer langen Geschichte: Sie wurde 1474 erstmals schriftlich erwähnt. Die mittelalterliche Zunft gesellte sich zu einer langen Reihe von Bruderschaften. Am Ende des 15. Jahrhunderts existierten rund 60 Gesellschaften mit verschiedenen Strukturen und Zielen, die alle unter dem Schutz eines Patrons standen. Die Bruderschaften waren an sämtlichen öffentlichen Veranstaltungen präsent, sowohl an Gnadenprozessionen in Hungersnöten oder Epidemien, wie auch an Hochzeiten oder Geburten der Prinzen von Savoyen. Der jährliche Höhepunkt war das bis zu drei Tage dauernde Zunftbankett. Da solche Bruderschaften auf traditionell religiösen Bräuchen und Glaubenssätzen fussten, verschwanden sie gemeinsam mit den «päpstlichen» Ritualen nach und nach im Verlauf der von Calvin initiierten Reformation. Einige, vor allem militärische Bruderschaften, bestanden jedoch auch weiter, nachdem sie ihre religiösen Aspekte eingebüsst hatten.
Der Schützenkönig
Die «Exercice de l’Arquebuse» entstand in einer Zeit der politischen und religiösen Unruhen und warb ihre Mitglieder unter den Bürgern der Stadt Genf an. Zentral war die Tradition der Wettbewerbe und der Königswürde. Im Edikt von 1474 wurde festgelegt, dass «drei Preise von je sechs Gulden vergeben werden müssen, einer für die Armbrustschützen, einer für die Bogenschützen und einer für die Kanonenschützen.» Ab 1475 wurden innerhalb der Stadtmauern von der Rue de Rive bis zur Rue du Lac Schützenfeste, sogenannte «Exercice», veranstaltet. Jedes Jahr fand ausserdem am dritten Sonntag nach Ostern ein Wettschiessen mit dem Namen «Coup du Roi» – Königsschuss – statt. Der erste, der den «Papegay», so der Name des Ziels, abschoss, wurde zum «König» des Schützenfests gekrönt. Er behielt den Titel ein Jahr lang und genoss sowohl steuerliche als auch ehrenamtliche Vorrechte. Diesem «König» wurde für seine Amtszeit ein Feldmarschall zur Seite gestellt, den man bald den «Seigneur-Commis» (Obmann) nannte, sowie ein Schatzmeister und ein Sekretär.
Abgeschottet und zügellos
Im Zuge der Aristokratisierung der Genfer Elite wurde die «Exercice de l’Arquebuse» zunehmend zu einem Sprungbrett der Macht, das dem Patriziat vorbehalten war. Bereits 1607 reichten mehrere Zunftmitglieder einen Antrag ein, «den guaicts (Wächtern), officiers (Polizeibeamten) und portiers (Torwächtern) das Schiessen mit der Arkebuse anlässlich steuerfreier Turniere zu verbieten, da es nicht sein darf, dass solche Leute König werden». Durch Verbote und Ausschlüsse wurde die Exercice bald ein sehr abgeschotteter Klub. Die Bruderschaft war nun ein Platz für Mächtige und Reiche und so wurden die Rituale bald prunkvoller, entgegen der umfangreichen Verordnungen, deren Einhaltung das Sittengericht kaum durchsetzen konnte. Vor allem anlässlich der «Krönungen» nahmen Luxus und Pomp prahlerische Ausmasse an – die Fähigkeiten am Gewehr spielten mittlerweile eine sehr untergeordnete Rolle. Als Hans-Rodolph Werdmüller 1530 die Königswürde erhielt, beschenkte er als neuer «Souverän» die ganze Stadt mit Speis und Trank.
Ein paar Jahrzehnte später vereinte Abel Chenevière die ehrenamtlichen Vorrechte, indem er als «König» der «Exercice du Canon» die «Königswürde» der «Exercice de l’Arquebuse» kaufte. Im Mai 1674 verlangte er, von allen Abgaben auf die Güter befreit zu werden, die er im vorangegangenen Oktober erstanden hatte. Der Rat befreite ihn davon «unter Berücksichtigung der alten Privilegien, welche den Königen der genannten Exercice verliehen wurden». Doch sein Sohn – Jean Chenevière – trieb die Zügellosigkeit noch viel weiter. Dieser war seinerseits 1725 «König» der «Exercice de l’Arquebuse» geworden, in einer Zeit, in der die luxuriösen, prunkvollen Ausschweifungen das Sittengericht erblassen liessen. Voraussetzung für das «Königtum» war ein Privatvermögen, mit dem zusätzlich zur Bürgschaft für die Bewachung des Schatzes der Arkebuse auch noch das traditionelle Bankett sowie die seit Ende des 17. Jahrhunderts öffentlich gewordenen Feste finanziert wurden. Das bedeutete jede Menge Dekoration und Umzüge auf der Plaine de Plainpalais als Symbol für die hierarchische Gliederung der Gesellschaft zugunsten von Reichtum und Ansehen.
Königlicher Umzug
Zum Anlass seiner Krönung beauftragte Jean Chenevière den Maler Barthélémy Guillebaud mit einem Selbstporträt. Die Beamten der Zunft baten für Chenevières Krönung beim Kleinen Rat um die Genehmigung einer Kavallerie-Kompanie sowie einer Kompanie der Bürgerwehr, die von Grenadieren flankiert werden sollte. Die Ratsmitglieder akzeptierten den Antrag ohne Widerrede. Sie schlugen lediglich vor, dass «die Herren, Prinzen und Gesandten aller Nationen, die in der Stadt verweilen» ebenfalls zur Zeremonie eingeladen werden sollten. Davon gab es in der Calvin-Stadt zu jener Zeit einige. Die Prinzen von Sachsen, von Brandenburg und Luxemburg, der Graf von Marklay sowie 140 weitere hochrangige Ausländer von hohem Ansehen nahmen die Einladung an. Einzig der Resident Frankreichs lehnte aus gesundheitlichen Gründen ab.
Die Zeremonie begann am 6. Juli 1725 zur Mittagszeit. Im Stadthaus empfing der «König» Jean Chenevière im ersten Vorzimmer die ausländischen Prinzen und Edelmänner. Anschliessend wurde das Mittagessen eingenommen, bei dem ein Trinkspruch auf das Wohl des neuen «Souveräns» dem nächsten folgte. Nach dem Kaffee genossen der «König und sein Hofstaat» den Umzug der zu diesem Anlass aufgebotenen Truppen. Der «König» folgte mit den Magistraten und dem ausländischen Adel. Bei ihrem Zug durch die Stadt wurden sie von der Bevölkerung, begleitet vom Klang donnernder Kanonenschläge, die von den Stadtmauern hallten, gegrüsst. Und das war erst der Anfang! Die Menge versammelte sich anschliessend auf der Plaine de Plainpalais in einem eigens für die Veranstaltung gebauten Amphitheater. Es begann die Nachstellung einer Schlacht: Geschützfeuer hier und dort, Sturm der Dragoner, Pistolenschüsse, die Infanterie in Reih und Glied, die auf das Kommando der Offiziere schoss, begleitet von Trommelschlägen. Schliesslich setzte der Regen dem Fest ein Ende und verhinderte die Vorführung der Grenadiere. Um sieben Uhr abends wurde Jean Chenevière von der ganzen Stadt nach Hause begleitet, wo er das Ende des Festzugs geniessen konnte.
Dieser Prunk als Ausdruck der Aristokratisierung dauerte bis 1781, als das Volk sich gegen das Patriziat erhob und gewaltsam eine demokratische Verfassung durchsetze. Dank der Hilfe der Berner, Franzosen und Sarden, welche die Stadt belagerten und die «alte» Ordnung wiederherstellten, konnte sich das Patriziat dennoch halten. Und damit nicht genug: Die Aristokratie löste die Miliz auf, die für ihren Geschmack zu gefährlich geworden war. Sie wurde durch eine professionelle Garnison aus zahlreichen von der Regierung bezahlten Söldnern ersetzt.
Verbot und Neugründung
Die altehrwürdigen Bruderschaften, darunter auch die «Exercice de l’Arquebuse», blieben nicht von den vielen Umbrüchen verschongt, welche die Genfer Gesellschaft von da an erlebte: Am 4. November 1782 wurden sie verboten. Zehn Jahre später verjagte die Revolution die alte Aristokratie, führte das Bürgermilizprinzip wieder ein und gründete die «Exercice de l’Arquebuse» neu. Das mutet paradox an, war die Exercice doch fast zwei Jahrhunderte lang ein von den mächtigsten Familien der Stadt eifersüchtig gehütetes Gut gewesen. Doch auch wenn wieder Schüsse erschallten und «Könige» gekrönt wurden, war von der masslosen Opulenz der vergangenen Jahrhunderte keine Spur mehr übrig. Stattdessen verfügt die Exercice heute über einen diskreteren und langlebigeren Reichtum in Form von Immobilien.