Mit Gülle gegen «Raser»
Vor 100 Jahren setzte das Automobil zu seinem Siegeszug an. Doch der Weg auf die Überholspur war holprig und manchmal auch glitschig.
Josef Nieth aus Bern war der Held am 27. August 1922. In 21 Minuten und 43 Sekunden hatte der waghalsige Autofahrer die Rennstrecke am Klausenpass mit 18 scharfen Links-, 26 Rechtskurven und 84 weiteren Kehren zurückgelegt, mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 56,7 Stundenkilometern. Broamm!
Diese Fahrzeit war eine Demonstration für die Leistungsfähigkeit von Fahrzeug und Pilot. Es war beste Reklame für das noch junge und auch umstrittene Verkehrsmittel Auto. Das erste Autorennen am Klausenpass hatte Massen von Zuschauenden entlang der Rennstrecke angelockt. Die «Gotthard-Post» berichtete: «Das war eine Hetz und Jagd während der ganzen Nacht bis zum frühen Morgen! Eine einzige Kolonne von Automobilen schlängelte sich in dunkler Nacht der Klausenhöhe zu, zwischenhinein mit hellem Rattern die Motorräder und hie und da ein seufzender Fussgänger, der sich seines Lebens kaum mehr sicher fühlte.»
Tatsächlich standen an jenem Sonntag 1000 Automobile an der Rennstrecke, so viele, wie noch kein Schweizer Pass je auf einmal gesehen hatte. 12'000 bis 15'000 Menschen jubelten durch die Staubwolken hindurch den flitzenden Rennwagen zu.
Mit Gülle und Mistgabeln gegen Autofahrer
Aber Autos waren damals keine unproblematischen Verkehrsmittel. Lecke Pneus, kochendes Kühlwasser, stotternde Motoren, gebrochene Achsen, verklemmte Kolben oder klopfende Pleuelstangen waren die Kehrseite des flotten Autofahrens.
Einen weiteren Schatten auf die neuen Fahrzeuge warfen die nicht asphaltierten Strassen; es bildeten sich schon bei niedrigen Geschwindigkeiten lästige Staubwolken. Zudem machten die Autos, damals mit schlechten Auspuffanlagen, einen ohrenbetäubenden Lärm, überdies waren sie ungewohnt schnell und von daher gefährlich. Im «Luzerner Tagblatt» kritisierte ein Tourist, das Auto sei ein «einfaches Luxusvehikel» und nur dazu da, «reichen Leuten ein neues Sportvergnügen zu bereiten und... den Durchschnittsmenschen in jeglicher Beziehung zu belästigen durch Staub, schlechten Geruch, Nervenerregung... Ein Automobil in einer schönen friedlichen Gegend dahinlaufend, kommt mir vor wie ein Tintenfleck auf einem Brautkleid.»
Bald schon sorgten zupackende Leute auf dem Land dafür, dass die Autofahrer nicht nur Tintenflecken abbekamen. Einige wurden mit Wasser oder mit Gülle bespritzt, andere von Mistgabeln oder Ochsenpeitschen aufgehalten, wieder andere fanden Hindernisse wie Baumstrünke oder Steine auf den Strassen – die Stimmung gegenüber den Autos war weitgehend negativ.
Die Kantone reagierten sehr unterschiedlich: Hier gab es Sonntagsfahrverbote, dort generelle Fahrverbote, andernorts keine Einschränkung, aber Höchstgeschwindigkeiten von 30 km/h. Die freie Fahrt der Autos wurde getrübt durch ein heilloses Durcheinander von Vorschriften, Gebühren, Fahrzeiten und Geschwindigkeitslimiten.
Geld regiert die Autowelt
Daraufhin war es vor allem die Fremdenverkehrsindustrie, aber auch ein wachsendes Autoinfrastrukturnetz mit Tankstellen, Gaststätten und Autogaragen, welche erfolgreich Druck machten. Denn der wirtschaftlichen Bedeutung des Automobils waren sich die Autofreunde sehr wohl bewusst: Die Autofahrer galten als tendenziell jüngere, vermögende, abenteuerlustige Leute, deren Geldbeutel locker sass.
Auf diese Weise kam auch das Rennen am Klausenpass von 1922 zustande. Die Initiative für den Wettkampf war von der Sektion Zürich des Automobilclub der Schweiz (ACS) ausgegangen. Grand Prix-Rennen in Frankreich und Italien begeisterten die Massen, also wollten die Zürcher ein Bergrennen nach ausländischem Vorbild am Albispass durchführen. Doch die Polizei bewilligte es nicht.
Also wich der ACS Zürich auf die Klausenstrasse zwischen Altdorf und Linthal aus. Für die Bewilligungen der Kantone Uri und Glarus griffen die Organisatoren in die Trickkiste, denn Autorennen waren im Prinzip untersagt: Sie sprachen lediglich von einer «Bergprüfungsfahrt». Der Urner Regierungsrat gab die Bewilligung nur, «da diese Veranstaltung unzweifelhaft geeignet war, den Fremdenverkehr zu heben, für die Klausenstrasse Reklame zu machen und nebst vermehrten Staatseinnahmen im allgemeinen nicht unbedeutenden Verdienst ins Land zu bringen.» Uri, noch gebeutelt von der Wirtschaftskrise von 1921, konnte tatsächlich kassieren: der Kanton mit den Fahrbewilligungen, die Hotellerie und die Gaststätten mit den anreisenden Gästen. Autos brachten Einkünfte, auch in die Bergkantone.
So kam es, dass bald der Bund einheitliche Regelungen für das Autofahren vorschlug: Das Auto setzte den Blinker für die Überholspur. 1927 wurde es allerdings temporär ausgebremst. Eine erste Gesetzesvorlage wurde abgelehnt. Erst 1933, während der Weltwirtschaftskrise, traten schliesslich einheitliche Vorschriften für den Automobilverkehr in der ganzen Schweiz in Kraft. Und wie schon auf den Strassen am Klausen einige Jahre früher, war es die Angst vor der Krise, welche dem Auto freie Fahrt verschaffte: Broammm!