Porträt von Jeremias Gotthelf von J. F. Dietler, 1844.
Porträt von Jeremias Gotthelf von J. F. Dietler, 1844. Wikimedia / Burgerbibliothek Bern

Der Welterschaf­fer mit den dreckigen Füssen

Wie der Berner Schriftsteller Jeremias Gotthelf (1797–1854) sich um die Ästhetik scherte und seine Schriften in den Dienst der Volksaufklärung stellte.

Marianne Derron

Marianne Derron

Dr. phil. in Germanistik an der Universität Bern

Ein «Kuhfladenschriftsteller», der gerne die Schattenseite der Gesellschaft zeigt und die hellen Aspekte absichtlich umgeht – so lautete die wenig schmeichelhafte Kritik zu Jeremias Gotthelfs erstem Roman Der Bauernspiegel von 1837. Solche Aussagen (die sich allerdings auch Zola 40 Jahre später anhören musste) wären für die meisten Autoren, die sich wie Gotthelf bereits in der zweiten Lebenshälfte befanden, auf jeden Fall entmutigend gewesen. Nicht jedoch für den Pfarrer Albert Bitzius, so der eigentliche Name Gotthelfs, der vor Schaffenskraft sprühte. Ursprünglich stammte er aus der Stadt Bern, lebte aber ab 1831 im Emmentaler Dorf Lützelflüh. Trotz seiner Verpflichtungen als Pfarrer, seines bunten Familienlebens sowie seiner Funktion als Schulkommissär zur Überwachung des reibungslosen Betriebs der Primarschule fand er Zeit für den Beginn einer Schriftstellerlaufbahn, die ihn für einige Jahre zum bestbezahlten deutschsprachigen Autor seiner Zeit machte.
Titelseite des «Bauern-Spiegels» in einer Edition von 1851, erschienen im Verlag Julius Springer Berlin.
Titelseite des «Bauern-Spiegels» in einer Edition von 1851, erschienen im Verlag Julius Springer Berlin. gotthelf.ch
Das Pfarrhaus in Lützelflüh, wo Jeremias Gotthelf von 1831 bis 1854 lebte.
Das Pfarrhaus in Lützelflüh, wo Jeremias Gotthelf von 1831 bis 1854 lebte. Wikimedia
Kirche und Jeremias Gotthelf-Denkmal in Lützelflüh auf einer Postkarte um 1919.
Kirche und Jeremias Gotthelf-Denkmal in Lützelflüh auf einer Postkarte um 1919. ETH-Bibliothek Zürich
Gotthelfs Werk umfasst 13 Romane und über 50 Erzählungen. Nach seinen ersten Veröffentlichungen in der Schweiz wird der Berliner Verleger Julius Springer auf ihn aufmerksam. Dank ihm kennt man Gotthelf bald auch in Deutschland und sogar am preussischen Hof. Während die meisten seiner Romane in der ländlichen Schweiz spielen, behandeln die Erzählungen und Novellen historische oder lehrreiche Themen und lassen sich der Spätromantik oder dem Biedermeier zuordnen. Die grösste Kritik ernten seine ländlichen Romane, in denen der bis anhin von der «grossen» Literatur verachtete Bauer rehabilitiert wird. Die Leserinnen und Leser reagieren zum einen mit Abscheu vor dieser direkt, fast naturalistisch oder sogar krud beschriebenen Welt, zum anderen sind sie von diesem Pfarrer fasziniert, der die moralische Botschaft über jeden ästhetischen Anspruch erhebt. Tatsächlich lässt sich Gotthelf nie auf ästhetische Debatten ein, obwohl seine Bewunderer und Briefpartner ihn manchmal mit anderen Schriftstellern wie Dickens oder Balzac vergleichen (Vladimir Dimitrijevic nannte ihn sogar «den Schweizer Tolstoi»). Nicht nur lehnt er jegliche Zuordnung zu einer bestimmten Strömung ab, sondern besteht auch auf seinem Status als Autodidakt und seiner regionalen Verankerung. Aus diesem Grund betonten Kritiker lange Zeit den «weltfremden» Zug des Pfarrers, der unabhängig von seinen Texten in erster Linie Prediger sein will und sich entschlossen der Volksaufklärung widmet.
«Der Sonntagsspaziergang» von Carl Spitzweg, 1841.
Der deutsche Maler Carl Spitzweg (1808-1885) war ein typischer Vertreter der Spätromantik und des Biedermeiers. Mit viel Humor porträtiert Spitzweg in «Der Sonntagsspaziergang» (1841) das Kleinbürgertum. Wikimedia
Albert Anker, «Die Gotthelf-Leserin», 1884.
Auch der Berner Maler Albert Anker (1831-1910) interessierte sich für das Leben der Bauern. Er schuf verschiedene Illustrationen für Gotthelf-Texte. Dieses Gemälde von 1884 trägt den Titel «Die Gotthelf-Leserin». Wikimedia
Die Literaturforschung von heute versucht, Gotthelfs weniger bekannten Werk in neues Licht zu rücken. Das sind unter anderem seine zahlreichen Kalendergeschichten, seine historischen Novellen (die Walter Scott folgen, dem Genre-Vorbild des 19. Jahrhunderts) sowie seine Zeitungsartikel. In Letzteren beweist Gotthelf, ein Liberaler der ersten Stunde, Talent als scharfsinniger und satirischer Beobachter der grossen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, von denen die Schweiz in den 1830er- und 1840er-Jahren betroffen ist. Als Verfechter der kantonalen Eigenheiten und Gegner des Antiklerikalismus der Radikalen ist Gotthelf gegen die Gründung des Bundestaats im Jahr 1848. Andererseits versuchen die Kritiker heute, sein Werk in einer breiteren literarischen Tradition zu verankern und es so aus seinem regionalistischen Korsett zu lösen. Und schliesslich ist nicht zu vergessen, dass Gotthelf dank mehrerer Übersetzungen in der Westschweiz und sogar in Frankreich – 1875 mit einem Vorwort von George Sand zu seinen Erzählungen – schnell grossen Anklang fand.

Online verfüg­ba­re Werke von Jeremias Gotthelf (Auswahl)

Die schwarze Spinne Der Besuch Ueli der Knecht Ueli der Pächter Der Bauern-Spiegel als Hörspiel aus dem Jahr 1962.

Serie: 50 Schweizer Persönlichkeiten

Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.

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