Portrait von Pierre Léon Pettolaz in seiner Senatorentracht, 1800.
Portrait von Pierre Léon Pettolaz in seiner Senatorentracht, 1800. © Musée historique de Vevey

Der Held der Helvetik

Wie Pierre Léon Pettolaz (1765–1811) aus dem provinziellen Greyerzerland ins Machtzentrum der unsteten Helvetischen Republik gelangte.

Pierre Rime

Pierre Rime

Jurist, ehemaliger Notar

Müde von den zahlreichen politischen Kämpfen, die er seit dem Frühling 1798 ausgefochten hatte, war Pierre Léon Pettolaz der Schwermut verfallen und schrieb am 6. April 1806 an Paulus Usteri:

(…) trotz allem werde ich diese Freiheit bis zum Ende vertei­di­gen und selbst wenn uns die Ketten bis in alle Ewigkeit umschlin­gen sollten, werde ich in Fesseln freier sein als unsere Unterdrü­cker in ihrem Purpur auf dem Thron.

Pierre Léon Pettolaz am 6. April 1806 an Paulus Usteri
Unter dem strengen Regime während der Mediationszeit war er nur noch Freiburger Grossrat der kleinen patriotischen Randgruppe, verachtet von der Mehrheitspartei der ehemaligen Adeligen. Die Zeiten grosser Ideen und Prinzipien waren vorüber. Nichts deutete darauf hin, dass Pierre Léon Pettolaz, ein Notar aus der Provinz, einen cursus honorum durchlaufen und schliesslich im Mai 1801 zum Vorsitzenden des Senats der Helvetischen Republik werden würde.
Pettolaz kam am 11. April 1765 in Charmey zur Welt und war Einzelkind. Der junge Pierre Léon wuchs in einer abgelegenen Region von Greyerz auf, die nur über einen «scheusslichen Weg» erreichbar war, die sich aber durch den Käsehandel öffnete. So gelangten Händler bis nach Lyon oder auch Turin. Auch Pierre Léon suchte den Kontakt nach aussen – jedoch über Briefwechsel und Korrespondenzen, die ihn aus seiner intellektuellen Einsamkeit befreien sollten. Er tauschte sich mit dem Journalisten Jean Lanteires, dem Zürcher Beamten Hans Gaspar Ott, Philippe Sirice Bridel und später mit Philippe Stapfer und Paulus Usteri aus.
Gruyère um 1798. Radierung von Heinrich Füssli.
Gruyère um 1798. Radierung von Heinrich Füssli. Zentralbibliothek Zürich
In seinen Korrespondenzen betonte der belesene Autor seinen Patriotismus und predigte die Helvetik als intellektueller Lohn der eidgenössischen Aufklärungszeit. Ausserdem pries er die neuen politischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution. Diese Prinzipien teilte er mit seinem in Paris wohnhaften Freund Nicolas Blanc. Er übte scharfe Kritik am seiner Meinung nach despotischem Regime des Patriziats in Freiburg. Ab 1791 jedoch zügelte er seine Angriffe, denn er wurde von den hohen Herren zum Notar und danach Gerichtsschreiber seines «Landes» ernannt. Jedoch verabscheute er das Denunzieren und weigerte sich im rauen Klima kurz vor der Helvetischen Revolution auch als untergebener Beamter, die «aufgeklärten» Geister in seiner Region anzuprangern. Er wurde sogar selber denunziert.
Pierre Léon Pettolaz, um 1790.
Pierre Léon Pettolaz, um 1790. Zentralbibliothek Zürich
1798 schlug Pettolaz nach dem Einfall der Revolutionsarmee aus Frankreich in die Schweiz, dem Franzoseneinfall, eine ganz neue Richtung ein. Er wurde Schreiber des Kantonsgerichts, danach Sekretär des Erziehungsrats und zog nach Freiburg. Der neu ernannte Beamte schwor in der Kirche Les Cordeliers am 19. August 1798 seine Treue gegenüber «dem Vaterland, der Freiheit und der Gleichheit und den Gesetzen der einen und unteilbaren Republik». Als ergebener Katholik war ein Eidbruch undenkbar.
Handzeichnung der helvetischen Flagge, die zwischen 1798 und 1803 auf Schweizer Gebiet eingesetzt wurde.
Handzeichnung der helvetischen Flagge, die zwischen 1798 und 1803 auf Schweizer Gebiet eingesetzt wurde. Schweizerisches Nationalmuseum
Am 3. Oktober 1799 wurde er zum Senator gewählt und widmete diesem exklusiven Kreis seine ganzen Fähigkeiten. Dabei setzte er oft seinen aufgeklärten Geist für die Aufklärung der Geister ein. Durch einen naiven Vorschlag provozierte der Greyerzer den ersten Staatsstreich der Helvetischen Republik und den Sturz des Direktoriums. Mit seinen patriotischen Freunden aus dem Waadtland, Muret, Cart und Lafléchère, machte er sich daran, eine auf ihre «patriotischen» Ansichten passende Verfassung aufzustellen. Der Staatsstreich vom 7. Juni 1801 machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Er kehrte in sein Dorf zurück. Im Herbst 1801 wurde er erneut Senator und schaffte es ein zweites Mal in den innersten Kreis der Republik. Doch erneut beendete ein Staatsstreich seine Ambitionen abrupt. Ab dann kritisierte er das von Bonaparte angeregte Verfassungsprojekt, denn dadurch würde ein «unitär-aristokratisch-demokratisch-föderatives» System wieder aufleben. Der Notar prophezeite, der Schweiz würde wegen all dieser Ereignisse und speziell wegen des Bürgerkriegs (Stecklikrieg) der «politische Tod» drohen. Dennoch konnte Bonaparte am 30. September 1802 die Mediation durchsetzen. Das nachfolgende Regime beendete die zentralistische Republik. Die Souveränität lag ab diesem Zeitpunkt bei den Grossräten der 19 neuen Kantone. Ein neuer und egalitärer Föderalismus wurde ausgerufen.
Erste Beschiessung von Zürich im sogenannten Stecklikrieg von 1802.
Erste Beschiessung von Zürich im sogenannten Stecklikrieg von 1802. Schweizerisches Nationalmuseum
Ab da beschäftigte sich Pierre Léon nicht mehr nur ausschliesslich mit Politik, blieb aber seinen Überzeugungen treu, wie im Brief an Usteri oben beschrieben. Der Notar kehrte zu seiner hochgeschätzten Lektüre zurück. Zudem unterhielt er eine aussereheliche Beziehung mit einer jungen Freiburgerin, die ihm einen Sohn schenkte und so seine Nachkommenschaft bis heute sicherte. Er starb in der Nacht vom 16. auf den 17. April 1811, noch in jungen Jahren, nach einer kurzen Krankheit in Charmey. Die Umstände seines Ablebens waren – in juristischen Begriffen ausgedrückt – «tragisch und betrüblich». Sein Nachlass war mit Schulden durch riskante Bürgschaften belastet und wurde mithilfe von Nicolas Blanc abgewickelt, der als Testamentsvollstrecker fungierte. Für den grundehrlichen Pettolaz war die Erklärung der Gleichheit eine anspruchsvolle Lehrmeisterin gewesen.

Serie: 50 Schweizer Persönlichkeiten

Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.

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