Artikel über Videospiele in der Westschweizer Presse der 1990er.
Artikel über Videospiele in der Westschweizer Presse der 1990er. e-newspaperachives.ch

«Videospiel bis zum Exzess»

Mit dem Boom der Konsolen und Computerspielen in den 1990er-Jahren entdeckt auch die Presse das Thema. Ein Blick in die Westschweizer Zeitungen jener Zeit zeigt, wie kontrovers über Videospiele diskutiert wurde.

Andy Maître

Andy Maître

Seit Abschluss des Geschichtsstudiums arbeitet Andy Maître als Webjournalist für Le Nouvelliste, Arcinfo und La Côte.

Die Joysticks in der Hand und die Augen gebannt auf den Bildschirm gerichtet: So setzt der Fotograf der Zeitschrift L’Illustré Simon, Michael und Patrick dicht vor dem Fernseher in Szene. Laut der Bildunterschrift des Artikels «Les accros du Nintendo» (Die Nintendosüchtigen) aus dem Jahr 1991 hat die «drei kleinen Westschweizer das Nintendofieber gepackt», so erklärt zumindest der Autor, was die wild «gestikulierenden Jungs an den Bildschirm fesselt».

Wachsende Beliebt­heit von Videospielen

Es handelt sich um einen der ersten ausführlicheren Artikel über Videospiele in einer französischsprachigen Zeitschrift aus der Schweiz. Obwohl bereits seit den 1970er-Jahren Inhalte über Videospiele existieren, interessiert sich die Westschweizer Presse erst ab den 1990ern zunehmend für dieses gesellschaftliche Phänomen. Die sogenannten «stationären Spielkonsolen» von Nintendo und Sega sorgen in der Schweiz für grosse Begeisterung, sodass Videospiele 1992 sogar auf Platz eins der meistverkauften «Spielzeuge» landen. Durch die Einführung der PlayStation von Sony, die einen Anteil von 80 Prozent am Markt für Videospiele erobern wird, verstärkt sich dieser Trend weiter.
Kinder spielen Videospiele im Verkehrshaus Luzern, April 1993.
Kinder spielen Videospiele im Verkehrshaus Luzern, April 1993. Keystone/Str

Eine Beschäf­ti­gung für die männliche Jugend

Während des ganzen Jahrzehnts betrachtet die Westschweizer Presse Videospiele vorwiegend als Beschäftigung für Kinder und Jugendliche. In den Artikeln heissen die Spielenden «Kids», «Teenager», «gosses» (Kinder) oder «gamins» (Jungen) und die Videospiele richten sich – durch die Wahl der Bilder – meist unbewusst eher an Jungen als an Mädchen. Einige Journalistinnen und Journalisten schliessen zwar auch Erwachsene in die Kategorie der Konsumenten ein, meist heisst es dann jedoch, dass die älteren Semester das Spiel nicht richtig beherrschen. Ein Redakteur der Tageszeitung La Liberté spricht seine Leserschaft direkt in diesem Ton an: «Ihr versteht nicht, worüber sich eure Kinder unterhalten. Ihr kennt weder ‹Super Mario›, den coolen italienischen Klempner, noch ‹Sonic› den frechen blauen Igel. Keine Panik! Ihr seid eben einfach nicht auf Draht, elektronisch noch nicht in den Neunzigern angekommen.»

Die Eigenschaf­ten von Videospielen

Mitunter hat die Westschweizer Presse Lob für Videospiele parat. Sie werden als «gut fürs Gehirn» beschrieben, um es mit den Worten eines Journalisten von 24 heures auszudrücken. Einigen Artikeln zufolge lassen sich mit den Spielen viele Fähigkeiten trainieren, etwa Konzentration, Kreativität oder Gedächtnisvermögen. «Videospiele sind für Kinder gar nicht so schädlich, wie man denkt», schreibt ein Mitarbeiter von Le Nouvelliste. Ist die Rede von Computerspielen anstatt von Konsolen, schlagen die Zeitungen oft einen noch positiveren Ton an. 1991 schreibt Le Nouveau Quotidien, Konsolenspiele seien «Lichtjahre von der pädagogischen Welt entfernt», wie sie Lernspiele auf Mikrocomputern wie Atari und Amiga bieten.
Screenshot aus Mortal Combat Trilogy.
Screenshot aus Mortal Combat Trilogy. YouTube

Gefähr­li­che Gewalt

Andererseits gelten Videospiele aufgrund ihres Suchtpotenzials und der dargestellten Gewalt aber auch als Gefahr für die Jugend – und das schon lange vor Massive-Multiplayer-Spielen und überaus realistischen Grafiken, die in den 2000ern weitere Kontroversen auslösen werden. Häufig ist von der Befürchtung zu lesen, dass Kinder durch Gaming aggressiv und nervös werden könnten. Kampfspiele wie Mortal Kombat Trilogy erregen die Gemüter. Als das Spiel auf den Markt kommt, ist in L’Express von «Massloser sadistischer und grausamer Gewalt» die Rede und in La Gazette de Lausanne lautet ein Titel sinngemäss: «Das Blut spritzt regelrecht über die Bildschirme».

Wieder­hol­te Hinweise auf die Abhängigkeit

In den 1990ern wird immer wieder vor der Suchtgefahr von Videospielen gewarnt. In Le Nouveau Quotidien schreibt ein Journalist: «Nintendo macht abhängig. Mario und Zelda, Link und die Goonies lassen einen nicht mehr los.» Häufig stützen sich die Beiträge auf Interviews mit Psychologen oder Pädagogen, Experten für Videospiele kommen fast nie zu Wort. In einer 1993 in La Liberté publizierten Studie erklärt ein Pädagogikprofessor, er als Vater verbiete «abends jeglichen Konsum solcher Spiele». Zur Bestätigung mahnt eine Expertin für Nervosität, dass «übertriebener Konsum von Videospielen […] schädlich ist.» Im selben Text werden die Spielenden sinngemäss als «Spielsüchtige», «Nintendofreaks», «Konsolenjunkies», «Abhängige» und die Videospiele als «neue Form des elektronischen Rausches» bezeichnet.
In einem Artikel über Videospiele vom 22.12.1999 fragt die La Liberté, ob Videospiele «Freund der Kinder sind».
In einem Artikel über Videospiele vom 22.12.1999 fragt die La Liberté, ob Videospiele «Freund der Kinder sind». e-newspaperachives.ch

Ein Diskurs, der bis heute vorherrscht

20 Jahre später, am 29. August 2017, veröffentlicht La Liberté einen Artikel mit dem Titel «Le jeu vidéo, jusqu’à l’excès» (Videospiel bis zum Exzess). Die dazugehörende Abbildung zeigt einen jungen Zocker mit Spiralaugen und beiden Händen am Controller, umgeben von Fliegen, an einem Fuss fehlt die Socke, dafür hat sich dort ein Spinnennetz gebildet. Die Autorin des Textes fragt sich, ob «häufiges Videospiel süchtig macht». Obwohl inzwischen auch eingehende journalistische Studien über die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte von Videospielen sowie damit verbundenen Praktiken wie E-Sport publiziert worden sind, stehen Gewalt und Sucht in der medialen Behandlung von Videospielen noch immer im Vordergrund.

Weitere Beiträge