NSDAP-Mitglieder-Abzeichen.
NSDAP-Mitglieder-Abzeichen. Wikimedia

Die Genfer NSDAP

Anfang der 1930er-Jahre war Genf tief zwischen Rechts und Links gespalten. Das waren gute Voraussetzungen für die Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Am 12. Dezember 1932 bleib es still in den Strassen von Genf. Keine Trommeln und Pfeifen, kein Escalade-Umzug. Das Fest war nach den dramatischen Ereignissen vom 9. November abgesagt worden. Bei einer Arbeiterdemonstration gegen die Versammlung von Faschisten waren 13 Menschen gestorben. Die Behörden hatten aus Angst vor Ausschreitungen die Armee zu Hilfe gerufen. Es rückten rund 600 Soldaten an, die meisten davon Rekruten. Als die Lage eskalierte, schossen sie in die Menge. Neben den 13 Toten gab es Dutzende von Verletzten. Es war ein schwarzer Tag in der Geschichte von Genf.
Protestkundgebung gegen den Faschismus in Genf, 9. November 1932.
Protestkundgebung gegen den Faschismus in Genf, 9. November 1932. Keystone / STR
Wählte Eugen Link für sein Schreiben knapp einen Monat nach dem Blutbad bewusst den patriotischsten Tag Genfs aus? Der Abgesandte aus Berlin hatte schon einige Wochen in der Stadt gelebt und das Massaker hautnah miterlebt. Link war gekommen, um zu beurteilen, ob sich Genf für eine neue Sektion der NSDAP eignen würde. Die Stadt war tief gespalten. Auf der einen Seite standen die Linken mit populären Anführern wie Léon Nicole an der Spitze. Auf der anderen Seite agierte eine konservative Rechte, deren extremer Flügel durchaus offen für nationalsozialistisches Gedankengut war. Dies schien den Deutschen zu überzeugen. Am 12. Dezember 1932 beantragte er beim Staatsrat eine Genehmigung für politische Aktivitäten, beispielsweise die Anmietung eines Raumes, um dort Versammlungen in deutscher Sprache ausschliesslich für in Genf lebende Deutsche abzuhalten. Ausserdem ersuchte er um die Erlaubnis, diese Versammlungen in der Lokalpresse anzukündigen. Eigentlich die Tätigkeiten eines gewöhnlichen Vereins.
Léon Nicole auf einer Fotografie von 1933.
Léon Nicole auf einer Fotografie von 1933. Wikimedia / Bibliothèque de Genève
Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: Am 11. Januar 1933 bewilligte der Staatsrat die diversen Gesuche des Nazis. Die Genfer Ortsgruppe der NSDAP nahm Gestalt an. Noch in derselben Woche mietete der Sekretär von Link, der in Cologny lebende deutsche Student Hellmuth von Hasperg, eine Kellerwohnung in der Rue des Charmilles 5. An der Tür des Hauptquartiers des «Vereins» mit der offiziellen Bezeichnung «Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Og. Genf» wurde ein Plakat mit dem Parteinamen und einem Hakenkreuz aufgehängt. Natürlich liess die Gründung der Partei die linken Kämpfer um Léon Nicole nicht kalt. Einige legten bei der Gendarmerie Protest ein. Am 18. Februar 1933 berichtete die Gendarmeriebrigade von Saint-Jean, dass Kommunisten das Hakenkreuz mit einem sowjetischen Propagandaplakat überdeckt hatten und dass die Tür des Parteilokals häufig mit Farbe beschmiert und bespuckt wurde. Der umstrittene Ort wurde fortan unter Beobachtung gestellt. Die Gendarmen führten Buch über das Kommen und Gehen von Männern und Frauen in brauner Kleidung mit Naziabzeichen am Arm. Die Schweiz liess sich durch die Umverteilung der Machtverhältnisse in Deutschland nicht täuschen. Einige fühlten sich an den Bürgerkriegszustand erinnert, die das Nachbarland am Ende des Ersten Weltkriegs 14 Jahre zuvor erschüttert hatten. Man fürchtete die Radikalisierung einer ganzen Gruppe der deutschen Bevölkerung. Den Generalstaatsanwalt des Bundesgerichts beunruhigte besonders die Entstehung nationalsozialistischer Bewegungen aus Deutschland. Am 2. März 1933, drei Tage vor der Reichstagswahl, bei der die nationalsozialistische Partei einen Sieg davontragen würde, teilte die Schweizerische Bundesanwaltschaft daher allen Kantonen mit, dass jede öffentliche Versammlung im Zusammenhang mit ausländischen Wahlen verboten sei.
Flugpionier Walter Mittelholzers Blick über Genf, 1934.
Flugpionier Walter Mittelholzers Blick über Genf, 1934. ETH Bibliothek Zürich

Genfer NSDAP lässt nicht locker

Sofort nach dem Wahlsieg der NSDAP am 5. März 1933 forderte die Bundesanwaltschaft, der die symbolische Tragweite der Naziembleme durchaus bewusst war, die Kantone per Eiltelegramm auf, Massnahmen zu ergreifen. Man wollte verhindern, dass die von den deutschen Konsulaten anlässlich des Wahlausgangs geplanten Demonstrationen, insbesondere das Hissen der Nazifahne, Unruhen verursachen würden. So konnten grössere Ausschreitungen verhindert werden. Doch die Genfer NSDAP liess nicht locker: Bereits am 11. März stellte sie einen neuen Antrag bei den Behörden. Die Mitglieder beabsichtigten, die Uniform der Nationalsozialisten zu tragen und zusätzlich zum Hakenkreuz auch die Farben der Schweiz und die Flagge von Genf zu zeigen. Ratlos fragte der Genfer Staatsrat den Bundesrat, welche Haltung einzunehmen sei, woraufhin der Bundesanwalt an das Verbot des braunen Hitler-Hemds erinnerte, wie es im Amtsblatt des Bundes von 1932 stand. Zudem bat er den Staatsrat, die Aktivitäten der Genfer Nazipartei aufmerksam zu beobachten, was dann auch geschah. Im ersten Bericht wird beispielsweise erwähnt, dass sich das Zentralkomitee der schweizerischen NSDAP-Gruppe unter der Leitung des Deutschen Wilhelm Gustloff in Davos traf.
Die Tätigkeiten von Eugen Link wurden minutiös überwacht.
Die Tätigkeiten von Eugen Link wurden minutiös überwacht.
Die Tätigkeiten von Eugen Link wurden minutiös überwacht. Schweizerisches Bundesarchiv
Im Rahmen der Überwachung sollten auch die Anzahl, die Identität und die Profile der Ortsgruppenmitglieder herausgebracht werden. Im März 1933 bestand die Gruppe aus 16 Mitgliedern zwischen 20 und 25 Jahren, wobei bis auf einen Rumänen alle aus Deutschland stammten. Unter den acht Frauen in der Ortsgruppe befanden sich eine Funktionärin des Völkerbundes und eine Studentin. Die übrigen waren Hausangestellte. Zu den männlichen Mitgliedern zählten der Büroangestellte Eugen Link, drei Studenten, zwei Völkerbundfunktionäre und ein Coiffeur. Studenten, Völkerbundfunktionäre, Hausangestellte – alles Profile, die Allen Dulles, der während des Krieges als OSS-Gesandter in Bern tätig war und später die Leitung der CIA übernahm, leicht als Geheimdienstagentinnen und -agenten hätte interpretieren können. Denn wer konnte Gespräche besser belauschen als ein Zimmermädchen in einem bedeutenden Haushalt? Und wer leichter Unterlagen über Abrüstungsverhandlungen entwenden als ein Büroangestellter? Im folgenden April rekrutierte die Ortsgruppe neue Mitglieder, darunter auch zwei deutsche Konsularbedienstete, die gerade erst nach Genf gekommen waren und als politische Kommissare Berichte über die Tätigkeit in den Konsulaten nach Berlin sendeten.
Anfrage an die Genfer Polizei zur Beschriftung des Vereinslokals an der Rue des Charmilles.
Anfrage an die Genfer Polizei zur Beschriftung des Vereinslokals an der Rue des Charmilles. Staatsarchiv Genf
Währenddessen entwickelte sich die Partei in beachtlichem Tempo weiter. Bei den Zusammenkünften der Zelle jeden Donnerstagabend waren Deutsche und Gäste aus anderen Ländern, etwa italienische Faschisten, stets willkommen, so die Polizeiberichte. Auf den Versammlungen trugen die Parteimitglieder unverhohlen die Hakenkreuzarmbinde und demonstrierten einen «sehr ausgeprägten militärischen Geist», wie im Rahmen der kontinuierlichen Überwachung dokumentiert wurde. Darüber hinaus galt die Aufmerksamkeit der Polizei auch einem gewissen Heinrich Anton August Schneider, einem ehemaligen Völkerbundfunktionär unter Reichsminister Goebbels, den die Kantonspolizei als «einflussreiches Element in den Hitler-Kreisen unserer Stadt» bezeichnete. Auf der am 23. Juni 1933 vom deutschen Konsulat veranstalteten Konferenz im Hotel Métropole hielt Schneider einen langen Vortrag über die Vorzüge der neuen deutschen Ordnung. Rund 150 Personen, allesamt Angehörige der deutschen Gemeinschaft in Genf, einschliesslich des Generalkonsuls Deutschlands, nahmen an dieser Konferenz teil. Der redegewandte, forsche und kühle Schneider kritisierte Schweizer und Genfer Behörden dafür, dass sie aus Deutschland vertriebene Juden auf ihrem Territorium duldeten, und stellte den Völkerbund als zu schwach und zu erfolglos dar. Seine Rede kam gut an. Schneider löste Eugen Link ab Oktober 1933 als Vorsitzender der Genfer NSDAP-Ortsgruppe ab. Die Partei und Goebbels, der im Vormonat für eine Rede vor dem Völkerbund nach Genf gereist war, hielten Link für zu weich.
Joseph Goebbels 1933 in Genf.
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (Mitte) 1933 an der Genfer Abrüstungskonferenz, welche unter der Leitung des Völkerbunds stattfand. Wikimedia
Neuer Parteichef, neue Entscheidungen: Am 1. Oktober 1933 verlegte der nationalsozialistische Verein sein Hauptquartier von der Rue des Charmilles an die Rue de la Coulouvrenière 44. Die Räume waren nicht nur grösser, sondern boten vor allem den Vorteil, dass sie André Balland gehörten, einem Abgeordneten der Frontismuspartei Union nationale, deren faschistische Gesinnung von dem finsteren Georges Oltramare vertreten wurde. Der Umzug blieb nicht unbemerkt: Im selben Monat erkundigte sich der Bundesanwalt beim Genfer Staatsrat, ob der deutsche nationalsozialistische Verein in Genf Kontakte zur Union nationale pflege. Erst kurz zuvor hatte die Berner Tagwacht einen Artikel mit dem Titel «Oltramare als Hitler-Agent» veröffentlicht. Einen weiteren Grund zur Sorge würde dem Bundesrichter später die Konferenz über die Angliederung der Schweiz an Deutschland bereiten, die im Beisein von 80 Nazis in den Räumen von Balland abgehalten und mit dem als Parteihymne genutzten Horst-Wessel-Lied beendet wurde. Natürlich leugneten die Nazis dies. Die Untersuchungen der kantonalen Behörden sollten zum Schluss kommen, dass zwischen der Union nationale und der NSDAP keine Verbindung bestand, sondern dass es sich bei den Vorwürfen um einen persönlichen Angriff Léon Nicoles auf Georges Oltramare als Anführer der Union nationale handelte. Hatten sich die Quellen der Berner Tagwacht geirrt? Jahrzehnte später bestätigten Historikerinnen und Historiker, dass Georges Oltramare ein Agent der Abwehr gewesen war und griffen damit die Behauptung der Berner Tagwacht wieder auf.
Porträt von Georges Oltramare, 1931.
Porträt von Georges Oltramare, 1931. notrehistoire.ch / Bibliothèque de Genève
Die Genfer Polizei beobachtete die Tätigkeiten der NSDAP-Ortsgruppe ganz genau.
Die Genfer Polizei beobachtete die Tätigkeiten der NSDAP-Ortsgruppe ganz genau. Schweizerisches Bundesarchiv
In den darauffolgenden Jahren wuchs die Genfer Ortsgruppe der NSDAP weiter, insbesondere dank der Mittel, mit denen die Führung der Gestapo ab Herbst 1934 die Hitler-Operationen in der Schweiz unterstützte. Mit diesem Geld gewann die Partei die Kontrolle über das Deutsche Heim in der Rue du Rhône, dem Treffpunkt der deutschen Gemeinschaft in Genf mit und ohne NSDAP-Mitgliedschaft, und funktionierte es sukzessive in ein Naziforum um. Zusätzliche Verstärkung und Organisation erreichte die Partei in Form einer Leiterin für die weibliche Hitler-Jugend sowie des Deutschen Hilfsvereins. Die Genfer Ortsgruppe der NSDAP, die der Politik und der Propaganda Goebbels folgte, ständige Überwachungen durchführte und Informationen über die in Genf lebenden Deutschen sammelte, wurde 1945 geräumt, als der Staatsrat die in Genf lebenden Nazis des Landes verwies.

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