Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789, Gemälde von Jean-Jacques-François Le Barbier (1738–1826), Ausschnitt.
Bild: Wikimedia

«Dieses ist keine gewöhn­li­che Revolution»

1790 schreibt ein Spitzel dem Berner Rat aus Paris: «Ich halte es nicht für möglich, dass ihr Euch lange vor der Krankheit Frankreichs bewahren könnt, wenn wir nicht selbst gesunden oder ein Arzt uns dazu verhilft.»

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Der Berichterstatter der Berner Regierung wusste, wovon er sprach. Der französische König hatte am 5. Mai 1789 die drei Stände einberufen, erstmals wieder seit fast 200 Jahren – eine unerhörte Massnahme. Am 14. Juli stürmte das Volk die Bastille, und auf dem Lande gingen Klöster, Schlösser und Archive in Flammen auf. Drei Wochen später beschloss die Ständeversammlung die steuerliche Gleichbehandlung sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Frondienste. Noch im selben Monat, am 26. August 1789, verkündete die Volksvertretung die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte».

«Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.»

Der unbekannte Maler, der diese Deklaration wohl kurz danach darstellte, sparte nicht mit Symbolen. Das monumental wirkende Gemälde ist zwar bloss 71 cm hoch und 56 cm breit, aber das Bild hält nicht nur die Präambel (klicken um zu vergrössern), sondern sämtliche 17 Artikel im Wortlaut fest. Es handelt sich quasi um eine gemalte Urkunde: Ort, Datum, Umstände sind verzeichnet, nicht zuletzt die Zustimmung des Königs. Es fehlen bloss die eigenhändigen Unterschriften. Um der ausdrücklichen «feierlichen Erklärung» Nachachtung zu verschaffen, malte der Künstler ein Monument, das an die Gesetzestafeln von Moses erinnert. Auch die Menschen- und Bürgerrechte sind nicht in Sand geschrieben, sondern in Stein gemeisselt, sogar mit goldenen Lettern in schwarzen Marmor.

Eine Frau aus dem Dritten Stand, gekleidet in den Farben des Stadtwappens von Paris, Rot und Blau, hat die Ketten gesprengt. Sie trägt nun den Mantel mit den königlichen Lilien und die Krone, den Blick zum Engel gerichtet, der mit einem Szepter auf das göttliche Auge, mit der Linken auf die Menschenrechte zeigt. Zwischen den beiden Gesetzestafeln verweist ein Liktorenbündel als Zeichen der Macht auf das alte Rom und damit auf eine lange Tradition. Es ist jedoch nicht wie üblich als Beil ausgebildet, sondern als eine Art Lanze, auf dessen Spitze eine phrygische Mütze steckt. Die Jakobiner nahmen fälschlicherweise an, in der Antike hätten die freigelassenen Sklaven solche Mützen getragen und machten diese Kappe zu ihrem Symbol – eine Verwechslung, die sich hielt. Hinter der roten Mütze und zwischen den schmückenden Blätter-Kordeln, die den Bezug zu Natur und Naturrecht herstellen, beisst sich eine Schlange in den Schwanz. Dieses Symbol wurde bereits im alten Ägypten verwendet. Der Kreis ist geschlossen, hat weder Anfang noch Ende. Ein sinnhafteres Zeichen für die Menschen- und Bürgerrechte ist schlicht nicht denkbar.

Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Gemälde vermutlich von 1789, Maler unbekannt. Ausgerechnet eine Frau sprengt die Ketten und trägt nun die Insignien der Macht.
Bild: Wikimedia

Reformversuche als politische Flickwerke

Untertanenrevolten und Verfassungskämpfe gab es in der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert zuhauf. Am herrschenden System wurde aber nicht gerüttelt. Das zeigt stellvertretend der sogenannte Chenaux-Handel von 1781/82 in Freiburg. Die Stadt wurde zwar von Landleuten belagert und geriet darob in Panik. Als im Nachgang die Pfarreien und Gemeinwesen aber eingeladen wurden, schriftlich ihre Bitten vorzubringen, wurde das Patriziat in keiner einzigen Eingabe in Frage gestellt. Verlangt wurden Steuererleichterungen, dazu sollten einige abgeschaffte religiöse Feiern und Prozessionen wieder eingeführt werden.

«Stäfner Memorial vom Jahr 1794. Ein Wort zur Beherzigung an unsere theüreste Landes-Väter!» Im Ton ehrerbietig wie die Freiburger Untertanen, in der Sache aber radikal: Die Zürcher Seegemeinden forderten eine Verfassung und die Gleichberechtigung von Stadt und Land!
Bild: Zentralbibliothek Zürich

Grundlegend: «Landesväter! Gebt uns eine Konstitution!»

Gleich einem gewaltigen Sturm, der Meere auftürme und Wälder aus den Wurzeln reisse, eile der Geist der Zeiten durch Europens blühende Gefilde, überschlug sich ein glühender Anhänger der Französischen Revolution in seiner Begeisterung. Dieser Sturm erreichte auch den Zürichsee und wurde 1794 zum Anlass des Stäfner Handels. Im Gegensatz zum Chenaux-Handel ging es hier um einen politischen Systemwechsel.

Typisch zum Ersten: Stäfa war zu jener Zeit punkto Bevölkerung und Wirtschaft die bedeutendste Landgemeinde im Kanton Zürich. Im 18. Jahrhundert hatte sich zu beiden Seiten des Zürichsees eine blühende Baumwoll- und Seidenproduktion entwickelt – die wirtschaftliche Basis für politische Veränderungen.

Typisch zum Zweiten: Diese ökonomische und demografische Entwicklung hatte eine wohlhabende Oberschicht hervorgebracht. Man schätzte Theater, Musik, fand sich in Lesezirkeln zusammen, stellte zunehmend fest, wie man sich der städtischen Elite annäherte – aber von ihren politischen und wirtschaftlichen Vorteilen stets gleich weit entfernt blieb. Der Stäfner Handel zeigt idealtypisch, dass am Zürichsee nicht etwa armselige Kleinbauern, die sich als Taglöhner über Wasser hielten, die treibenden Kräfte waren. Viel mehr forderten Mitglieder der ländlichen Führungsschicht ihre Rechte ein. Das «Stäfner Memorial», eine Bittschrift an den Rat von Zürich, wurde aufgesetzt von Ofenbauer Heinrich Nehracher, Wundarzt Johann Kaspar Pfenninger, Bäcker Heinrich Ryffel und Chirurg Andreas Staub.

Typisch zum Dritten: In den Lesegesellschaften suchte man intensiv nach «alten Freiheiten», so in den Waldmannschen Spruchbriefen von 1489 und den Kappeler Briefen von 1532. Die kommunale Selbständigkeit der Landbevölkerung, die einst urkundlich verbrieft war, später aufgehoben wurde, sollte wieder eingefordert werden. Zu dieser restaurativen Forderung kam eine revolutionäre, inspiriert durch die Aufklärung und die Ereignisse in Frankreich. Das fundamentale Postulat lautete: «Landesväter! Gebt uns eine Konstitution, die nicht innert die Mauern der Stadt vergraben ist und das Landvolk ausschliesst.»

Vom Gefängnis zum Senatspräsidium. Johann Jakob Bodmer (1737–1806), Seckelmeister von Stäfa, gehörte zu den Anführern des Stäfner Aufstands, war aber an der Ausarbeitung der Bittschrift von 1794 nicht beteiligt. Dennoch wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, wie Gitter, Ketten, Wasser und Brot andeuten. 1798 rehabilitiert, eröffnete er als Alterspräsident den helvetischen Senat.
Bild: ZB Zürich, Graphische Sammlung, e-rara.ch

Die Ketten sind gesprengt! Das «Patrioten-Denkmal» im Hafen von Stäfa, geschaffen 1898 vom Ostschweizer Bildhauer August Bösch, erinnert an den Stäfner Handel von 1794/95 – mit einem Landschäftler, für den ein italienischer Immigrant Modell gestanden war. Damit verwies der Künstler auch auf die damaligen «Italiener-Krawalle».
Bild: Adrian Michael / Wikimedia

Die Rechnung der Herren und die Quittung der Untertanen

Die Forderungen der Stäfner Bittschrift wurden samt und sonders abgeschmettert: nichts mit der Gleichstellung von Landleuten und Stadtbürgern, nichts mit der Handels- und Gewerbefreiheit, mit der Ablösung der Feudallasten. Im Sommer 1795 liess die Obrigkeit Stäfa mit 2‘000 Mann zwei Monate lang besetzen – auf Kosten der besetzten Gemeinde. 267 Aufständische wurden verurteilt. Die Anführer sollten mit lebenslangen Freiheitsstrafen unschädlich gemacht werden. Eine harsche Rechnung. Die Untertanen hielten bald darauf eine Quittung bereit. Als die Obrigkeit zu Beginn des Jahres 1798 ein Aufgebot erliess, um den Einmarsch der Franzosen zu bekämpfen, ignorierten die Landleute diesen Befehl weitgehend. Sie mochten die alte Ordnung und die Besatzer von 1795 nicht verteidigen.

Am Ende nochmals eine Inszenierung von Macht und Hierarchie: Am 6. und 7. September 1795 entliess die Zürcher Obrigkeit auf dem Schützenplatz die nach Stäfa aufgebotenen Truppen. Aquarell, Maler unbekannt.
Bild: Zentralbibliothek Zürich

→ Lesen Sie morgen, wie die Französische Revolution 1798 in die Schweiz exportiert wurde und wie sich die «Champignons républicains» entwickelten.

1798 – Der erste Anlauf

In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.

Das historische Thema dieser Woche: Der Umbruch von 1798 – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.

Montag:
Zwei Vorzeichen für dasselbe Jahrhundert
Politisch erstarrte das Ancien Régime im 18. Jahrhundert. Wirtschaftlich und gesellschaftlich dagegen entwickelte sich unser Land dynamisch. Eine hoch interessante Konstellation im Vorfeld von 1798.

Dienstag:
«Dieses ist keine gewöhnliche Revolution»
1789 verkündete die Ständeversammlung in Frankreich die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte». Im Stäfner Handel wurde erstmals das politische System auch in der Schweiz in Frage gestellt.

Mittwoch:
1798 – wo bleibt die Eidgenossenschaft?
Basel feiert. In Luzern dankt das Patriziat ab. Bern leistet Widerstand. Die Nidwaldner stürzen sich in einen Verzweiflungskampf. Aus dem losen Staatenverband der Eidgenossenschaft wird ein extremer Zentralstaat.

Donnerstag:
Von Freiheitsbäumen und ihren Schatten
Spötter befanden, die Freiheitsbäume hätten keine Wurzeln, und dem Freiheitshut fehle der Kopf. So einfach sollte man es sich mit Freiheitsbäumen nicht machen. Anspruch und Wirklichkeit klafften allerdings auseinander.

Freitag:
Demokratie? Episode? Bruch? Erster Anlauf?
Die Helvetik hat miserable Karten: a) von aussen aufoktroyiert, b) zeitlich eine Episode, c) quer zum Bisherigen, d) auch repariert von aussen. Dennoch gehört sie zum Wichtigsten, das der Schweiz je widerfuhr.

Weitere Beiträge