Porträt von George Montandon
Porträt von George Montandon. Public domain

Wer nicht zahlt, ist kein Arier

Wie der Neuenburger Antisemit George Montandon (1879–1944) mit seinen pseudowissenschaftlichen Rassentheorien die Juden diffamierte und den Holocaust zu legitimieren versuchte.

David Alliot

David Alliot

David Alliot ist Autor und freier Journalist in Paris.

George Montandon war keineswegs dafür prädestiniert, eines der schrecklichsten Symbole der antisemitischen Nazi-Politik zu werden. Er wurde am 19. April 1879 in Cortaillod am Neuenburgersee geboren. Seine Familie gehörte dem Hochbürgertum des Kantons an, und das Medizinstudium war ihm in die Wiege gelegt. Mit dem Abschluss in der Tasche verliess Montandon die Schweiz, um sich auf eine Forschungsreise nach Äthiopien zu begeben (die ihm einen gewissen Erfolg bei den geografischen Gesellschaften Europas bescherte). Von 1919 bis 1921 arbeitete er für das Rote Kreuz in gefährlicher Mission in Russland, wo der Bürgerkrieg wütete. Bei seiner Rückkehr in die Schweiz im Jahr 1921 war er nicht mehr allein: Während seines Aufenthalts in Russland waren seine Assistentin Maria Konstantinovna Zvyaghina und er sich nähergekommen, und die beiden hatten in Moskau geheiratet. Am Genfersee befanden die eidgenössischen Behörden den Mediziner allerdings als höchst verdächtig. Der Aufenthalt im Land der Sowjets, seine Begeisterung für das neue Regime, die mutmassliche Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationalen und dann auch noch eine russische Ehefrau... Das weckte Misstrauen. Deshalb gingen die Montandons 1926 nach Reibereien mit der Schweizer Justiz nach Paris.
In der französischen Hauptstadt schlug George Montandon eine Laufbahn als Ethnologe ein. Zwischen den Weltkriegen machte er sich in rassistischen und antisemitischen Kreisen mit rassentheoretischen Veröffentlichungen einen Namen, insbesondere mit La race, les races, mise au point d’ethnologie somatique (Über Rasse und Rassen, Abhandlung zur somatischen Ethnologie, 1933) und L’Ethnie française (Die französische Ethnie, 1936). Unter diesen wissenschaftlich anmutenden Titeln versuchte Montandon, die Menschen anhand von genauen biologischen und physischen Merkmalen in fünf «Grossrassen» einzuteilen. Jede dieser Grossrassen wurde, ebenfalls bestimmt durch äussere Merkmale, in «Rassen» untergliedert. Montandon zufolge nahmen die Grossrassen nicht zufällig eine bestimmte Rangfolge in der Hierarchie des Menschen ein. Seine Theorie lautete: Je näher die Rasse dem «Uraffen» stehe, desto weniger weit entwickelt sei sie. So verknüpfte er die «Grossrasse der Pygmoiden» direkt mit dem Affen, die «Negroiden» mit der nächsten Rangstufe, verwandt mit dem Gorilla, die «gelbe Grossrasse» mit dem Orang-Utan und so fort. Die «europoide Grossrasse» brachte er in seiner Rassengenealogie als letzte Rangstufe in Verwandtschaft mit dem «Urmenschen», also mit dem am höchsten entwickelten, ausgereiftesten Primaten, der die Spitze der Evolution bilde und allen anderen Rassen überlegen sei. Natürlich differenzierte er unter den Europoiden weitere «Rassen», die nicht alle auf derselben Stufe standen. Die «germanische Rasse» hielt er für wesentlich «reiner» als die «mediterrane Rasse», was er ebenfalls an äusseren Merkmalen festmachte. Und so weiter...
«Rassentypen Frankreichs», Grafik von George Montandon, ohne Datum.
«Rassentypen Frankreichs», Grafik von George Montandon, ohne Datum. Wikimedia
Im Laufe seiner «Forschung» quälte George Montandon immer wieder eine Frage: Wo sollte er in seiner Klassifikation Jüdinnen und Juden unterbringen? Seit 2000 Jahren stellte diese «Hurenethnie», wie er sie bezeichnete, sämtliche Antisemiten vor ein grosses Problem. Da sie über den ganzen Globus verstreut lebte, vermischte sich die jüdische Bevölkerung mit ihrem Umfeld, was eine Unterscheidung fast unmöglich machte. Für den Anthropologen war dies jedoch kein unüberwindbares «Problem». Als «Ethnie» seien sie nicht in Europa heimisch, und um eine Jüdin oder einen Juden zu erkennen, stützte sich George Montandon auf sekundäre Merkmale wie Augen («Glupschaugen»), Nase («stark vorstehend»), Lippen («fleischig»), Haare («lockig oder sehr wellig») usw. – so das ganze antisemitische Gefasel seiner Zeit.
1941 fand in Paris eine antisemitische Propagandaausstellung mit dem Titel «Le Juif et la France» statt. Die Ausstellung basierte auf der Arbeit von George Montandon.
1941 fand in Paris eine antisemitische Propagandaausstellung mit dem Titel «Le Juif et la France» statt. Die Ausstellung basierte auf der Arbeit von George Montandon. Wikimedia
Die deutsche Besetzung Frankreichs war ein Glücksfall für Montandon, der von da an seine extrem antisemitischen Artikel schreiben und veröffentlichen konnte, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Im Oktober 1940, nur einige Monate nach der französischen Niederlage, fasste er seine übelsten Abhandlungen in dem Werk Comment reconnaître le Juif? (Wie erkennt man einen Juden?) zusammen, das traurige Berühmtheit erlangte. Publiziert wurde es als erster Titel der «antisemitischen Sammlung» des Verlags Nouvelles Éditions Françaises, einer Tochtergesellschaft von Editions Denoël, die auch Bücher von Louis-Ferdinand Céline im Programm hatte... Von 1941 bis 1942 wurden seine Rassenthesen bei den Deutschen in die Praxis umgesetzt: Das vom Vichy-Regime gerade erst gegründete Generalkommissariat für Judenfragen (GCQJ) setzte Montandon als «Rassenexperten» ein. Auf einmal hatten seine «Gutachten» sowohl bei den Besatzungsbehörden als auch bei den französischen Gerichten juristische Relevanz. Fortan wurde der Mediziner beauftragt, «wissenschaftlich» festzustellen, ob Personen mit einem in den Augen der Deutschen «verdächtigen» Namen oder Aussehen (zum Beispiel Angehörige des Kolonialreichs), die keine «arische Abstammung» nachweisen konnten, jüdisch waren. Welche Folgen das hatte, kann man sich vorstellen. Montandon trug von nun an aktiv zur Vernichtung der Juden bei. Das GCQJ schickte die «Patientinnen und Patienten» nach Clamart in Montandons Villa, wo sie entwürdigende körperliche und geistige «Untersuchungen» über sich ergehen lassen mussten. Montandon hatte aber eine grosse Schwäche: seine übermässige Vorliebe für Geld. In der Verborgenheit seines Behandlungszimmers konnte man sich nämlich für eine beträchtliche Summe «ergänzenden Untersuchungen» unterziehen und sich so den begehrten «Ariernachweis» erkaufen. Wehe dem, der die versteckten Hinweise des Doktors nicht verstand oder diese exorbitanten Zahlungen nicht leisten wollte...
Titelseite des antisemitischen Sammelbands von George Montandon Comment reconnaître le Juif?, Paris, 1940.
Titelseite des antisemitischen Sammelbands von George Montandon Comment reconnaître le Juif?, Paris, 1940. Public domain
Am 3. August 1944 fand die Tragödie ein Ende. Während sich die Amerikaner unaufhaltsam der französischen Hauptstadt näherten, begaben sich drei Männer zur Villa des Arztes und feuerten Schüsse ab. Die Bilanz: Montandons Ehefrau, die ihren Mann schützen wollte, wurde getötet. Der schwer verletzte Gatte überlebte das Attentat und wurde in ein Pariser Spital gebracht. Aufgrund seiner schweizerischen Abstammung beschlossen die deutschen Behörden, ihn in sein Geburtsland zurückzuschicken. Zuvor wurde er jedoch nach Fulda transportiert, wo die Ärzte eines deutschen Militärspitals einen letzten Operationsversuch zum Entfernen der Kugel unternehmen sollten. Doch Montandon, der bereits an Krebs erkrankt war und nur noch wenige Monate zu leben hatte, konnte wegen seines schlechten Zustands keinen medizinischen Eingriff verkraften. Er starb nach einem Monat des Leidens am 30. August 1944 und wurde auf dem Friedhof der Stadt beerdigt. Niemand weinte dem grausamen Doktor und seinen Rassentheorien, die auf dem Müllhaufen der Geschichte landeten, eine Träne nach.

Serie: 50 Schweizer Persönlichkeiten

Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.

Weitere Beiträge