In den Goldenen Zwanzigern hatte die Welt das Gefühl, es gehe wirtschaftlich nur noch aufwärts...
In den Goldenen Zwanzigern hatte die Welt das Gefühl, es gehe wirtschaftlich nur noch aufwärts... Wikimedia

Die Goldenen Zwanziger

Noch heute wird von den Goldenen Zwanzigern geschwärmt. Doch wie glänzend waren diese Jahre wirklich? Und wie gross sind die Parallelen zu den heutigen 20ern?

Andrea Weidemann

Andrea Weidemann

Andrea Weidemann ist Leiterin des Schweizer Finanzmuseums.

Produktivitätswachstum dank technologischem Fortschritt, neue wirtschaftswissenschaftliche Modelle, geglättete Konjunkturzyklen durch Notenbanken... Schlagzeilen der Wirtschaft nach Corona? Nein! Diese Sätze und Ziele sind 100 Jahre alt. Sie stammen aus den 1920er-Jahren. Die Menschen und die Wirtschaft litten damals unter den verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Historiker Tobias Straumann betont in einem Podcast des Schweizer Finanzmuseums, was für ein Einschnitt dieser Krieg für die Menschen damals war. Davor war die Welt bereits globalisiert und wirtschaftlich gut unterwegs – man denke nur an die Belle Epoque – doch das krachte mit dem Krieg zusammen. Dieser forderte nebst Millionen Menschenleben auch immens Kapital. Grosse Volkswirtschaften wie Deutschland waren am Boden. Zusätzlich forderte die Spanische Grippe je nach Schätzung bis zu 50 Millionen Menschenleben. Zu Beginn der 1920er-Jahre begannen sich die Volkswirtschaften der USA und Westeuropas aber langsam zu erholen. Und das obwohl noch 1923 in Deutschland eine Hyperinflation herrschte; das Geld entwertete sich fortlaufend. Auch die Schweiz war davon betroffen, war Deutschland doch damals ihr wichtigste Exportland.
Soldaten im Ersten Weltkrieg in Frankreich.
Soldaten im Ersten Weltkrieg in Frankreich. Wikimedia
«Roaring Twenties» wurde diese kurze Zeit der Prosperität in den USA genannt, «années folles» in Frankreich und «Goldene Zwanziger Jahre» in Deutschland. In den Metropolen im Westen feierten die Menschen wieder ausgelassen. Die Nachfrage stieg aufgrund des Bedürfnisses, das nachzuholen, was während und direkt nach dem Krieg nicht möglich war. Die Industrie produzierte dank Fliessbandfertigung auf breiter Front für die Massen. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in den USA stieg in den 1920ern um jährlich über vier Prozent. Bereits in dieser Zeit war die Schweiz punkto Vermögensverwaltung die Nummer Eins in Europa. Und das noch vor der Einführung des Bankgeheimnisses. Das sogenannte Leveraging bei Börsengeschäften, bei dem mit relativ geringem Einsatz viel Risiko über einen Deal mit Hebelwirkung eingegangen wird, befeuerte einen bis dahin beispiellosen Aktienboom, der jedoch im Oktober 1929 jäh endete. Die Party war vorbei. Der Kater dauerte 25 Jahre. Erst 1954 erreichte der Dow Jones Industrial Average wieder seinen Höchststand von vor dem Crash.
TV-Beitrag über den Börsencrash von 1929. YouTube
Wiederholt sich jetzt die Geschichte? Nicht unbedingt: So ist beispielsweise im Westen der Sozialstaat heute weit besser ausgestattet. Dies hat sich in der Covid-19-Krise als segensreich erwiesen. Somit dürften sich trotz hoher Staatsschulden bereits mögliche negative Auswirkungen abfedern lassen. Ausserdem haben die Notenbanker die Lektion von 1929 gelernt und schon in der Finanzkrise 2008/09 angewendet: Sie haben die Zinsen gesenkt respektive tief gehalten und nicht wie 1929 im unglücklichsten Moment erhöht. Schliesslich ist der wichtige Finanzsektor heute stärker reguliert und die Bankbilanzen deutlich resilienter als nach dem Ersten Weltkrieg. Und doch gibt es Parallelen – oder in den Worten von Mark Twain: «Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich immer wieder.»
Wiederholt sich die Geschichte? Nein, meint Mark Twain, aber sie reimt sich immer wieder.
Wiederholt sich die Geschichte? Nein, meint Mark Twain, aber sie reimt sich immer wieder. Wikimedia
Aber welcher Reim ist es denn nun? Zu nennen sind an prominenter Stelle die zunehmenden Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der westlichen Industriestaaten und im Vergleich zu Entwicklungsländern. Die anhaltenden Negativzinsen führen wegen der finanziellen Repression zu einer stetigen Erosion des Mittelstands, dem Rückgrat jeder Gesellschaft. Eine vergleichbare Situation zeigte sich auch im Verlauf der Roaring Twenties, die nur für eine Minderheit wirklich «roaring» waren. Es gab nämlich auch damals viel mehr Verlierer als Gewinner. Heute kreiert die digitalisierte Wirtschaft zwar viele spannende Arbeitsplätze, die aber von den neugeschaffenen, schlecht bezahlten Jobs (beispielsweise in der Logistik des Onlinehandels) in den Schatten gestellt werden. Eine neue Unterschicht – diesmal im Dienstleistungssektor und nicht am Fliessband – könnte entstehen. Ferner steht die Zusammensetzung der globalen Wertschöpfungsketten immer mehr in der Kritik. Ein möglicher Deglobalisierungsprozess würde die weltweiten wirtschaftlichen Unterschiede noch vergrössern. Und schliesslich ist fraglich, ob die «Generation Corona», also junge Menschen, die sich momentan in Ausbildung befinden, gute Karten auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft haben werden.

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