Die Villa Cassel ist in die idyllische Walliser Bergwelt eingebettet.
Die Villa Cassel ist in die idyllische Walliser Bergwelt eingebettet. Wikimedia

Schöner Wohnen im Wallis

Wer auf der Riederfurka unterwegs ist, kommt nicht um die Villa Cassel herum. Das eigenwillige Bauwerk von 1902 ist weitum sichtbar und war das ehemalige Feriendomizil eines gestressten Engländers.

Katrin Brunner

Katrin Brunner

Katrin Brunner ist selbstständige Journalistin mit Schwerpunkt Geschichte und Chronistin von Niederweningen.

«Hotel unmöglich, schlagen Sie etwas anderes vor.» Diese knappe Ansage schrieb Ernest Cassel 1895 seinem Arzt Sir William Broadbent nach England. Dieser hatte den 43-Jährigen unter Androhung, die weitere Behandlung zu verweigern, in die Schweizer Bergwelt geschickt. Nun also checkte Ernest Cassel mit seiner Entourage im damals einfach gehaltenen Hotel Riederfurka ein und war alles andere als begeistert. So wenig der englische Bankier und Finanzberater mit dem rustikalen Charme seiner Bleibe etwas anfangen konnte, so sehr war er von der Natur am Rand des grossen Aletschgletschers beeindruckt.
Gemälde von Ernest Cassel, 1907.
Gemälde von Ernest Cassel, 1907. Wikimedia
Ernest Cassel scheint ein Stadtmensch gewesen zu sein. Geboren und aufgewachsen in Köln, begann er dort bereits als 14-Jähriger eine Banklehre. Zwei Jahre später verliess er Deutschland um sich in England niederzulassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris zog es den jungen Mann wieder nach England, wo er 1878 die Engländerin Annette Maxwell heiratete und so die englische Staatbürgerschaft erhielt. Aus Ernst wurde Ernest. Seine Bankgeschäfte und die damit zusammenhängenden Beratungen, die ihn unter anderem auch ins britische Königshaus brachten, waren lukrativ, sie gingen aber auch auf Kosten seiner Gesundheit. Zeit seines Lebens litt Ernest Cassel an Herz-Kreislauf-Problemen und Magenbeschwerden. Die Idee zur Kur im Wallis kam von Sir William Broadbent, der – ganz im Zeichen des aufkeimenden Schweizer Tourismus – die Gegend bereits kannte. Trotz beschwerlicher Anreise kam Ernest Cassel in der Folge immer wieder ins Wallis. Er schien sich sogar mit der ihm zuerst primitiv erscheinenden Unterkunft des Hotels Riederfurka angefreundet zu haben. Übernachtete er doch immer wieder dort.
Das Hotel Riederfurka (links) und die Villa Cassel auf einer Fotografie, Anfang 20. Jahrhundert.
Das Hotel Riederfurka (links) und die Villa Cassel auf einer Fotografie, Anfang 20. Jahrhundert. ETH Bibliothek Zürich
1901 traf sich Ernest Cassel mit Vertretern der Gemeinden Ried und Betten um über einen möglichen Landkauf zu sprechen. Bereits in den Jahren zuvor machte er mit grosszügigen Spenden gute Laune in der Region. So war man sich bald einig und überliess dem «spleenigen» Engländer ein Stück Land, welches für die Viehwirtschaft nicht geeignet schien. Mit ihrem auffälligen Fachwerk, den Türmchen und Dachspitzen passte die 1902 im viktorianischen Stil erbaute Villa Cassel wie die Faust aufs Auge. Dies fanden zumindest die Nachbarn und Dorfbewohner. Nicht lange, und die Gerüchteküche brodelte. Allerlei Baumaterial, exotische Gerätschaften wie Klavier oder Badewannen wurden auf Maultierrücken auf rund 2000 Meter über Meer transportiert. Was hatte es beispielsweise mit der Schreibmaschine auf sich, die man gesehen haben wollte? Wurden dort oben Bücher gedruckt, oder gar Geldscheine?
Blick in die noble Villa Cassel. Katrin Brunner und Pro Natura Zentrum Aletsch
Die Inneneinrichtung war das eine, die illustre Gästeschar das andere. So trafen sich der europäische Adel, Politiker und Entscheidungsträger aus der Hochfinanz oben auf der Riederfurka. Sie genossen die Landschaft, die Gesellschaft und die Ruhe. Zuwenig Ruhe hatte, Gerüchten zufolge, der junge Winston Churchill, der zwischen 1904 bis 1913 in der Villa Cassel an der Biografie seines Vaters schrieb. Das Gebimmel der Kuhglocken ging ihm gehörig auf die Nerven. Sicher nervte er sich noch mehr, als es die Bauern ablehnten den Kühen die Glocken abzunehmen. Ernest Cassel löste das Problem mit einer kleinen finanziellen Spende. Ab sofort stopften die Hirten etwas Stroh in die Glocken.
Der junge Winston Churchill nervte sich über den Lärm der Kuhglocken. 
Der junge Winston Churchill nervte sich über den Lärm der Kuhglocken. Library of Congress
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete das heitere Treiben in und rund um die Villa. Ernest Cassel sollte nie wieder ins Wallis zurückkommen. Er starb 1921, nach wie vor gesundheitlich angeschlagen, in London. Seine Villa und das dazugehörende Chalet wurden drei Jahre später und bis 1969 zu einem Hotel umfunktioniert. Danach versank das pittoreske Haus am Berg in einen Dornröschenschlaf, aus dem es nicht mehr zu erwachen drohte. Seit 1976 befindet sich aber das Pro Natura Aletsch Zentrum darin, und die Villa und ihr Chalet empfangen wieder Gäste.

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