Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz in Genf, September 1943.
Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz in Genf, September 1943. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Fluchtort Genf

Während des Zweiten Weltkriegs flüchteten unzählige Jüdinnen und Juden von Frankreich über Genf in die Schweiz. Nach der Grenzschliessung im August 1942 wurde dies zwar schwieriger, aber nicht unmöglich, wie die Geschichten von Lilian Blumenstein und Lili Reckendorf zeigen.

Gabriel Heim

Gabriel Heim

Gabriel Heim ist Buch- und Filmautor sowie Ausstellungsmacher. Er befasst sich vor allem mit Recherchen zu Themen der Neueren Zeitgeschichte und lebt in Basel.

Am 17. November 1942 überquerten die 43-jährige Elsa Blumenstein und ihre 22-jährige Tochter Lilian die Grenze zur Schweiz, die bei Thônex am Flüsschen Foron verläuft. Die beiden Frauen hatten eine lange, von  Unsicherheit und bangen Momenten gezeichnete Reise hinter sich, als sie an diesem nebeligen Novembermorgen die letzten Schritte auf das erlösende Ziel ihrer Flucht zugingen. Lilian hat diesen Augenblick nie vergessen. «Es war am helllichten Tag. Meine Mutter und ich überquerten ein Feld. Kein Mensch hat uns bemerkt. Nach einer Weile standen wir auf einer Strasse, wo uns  ein Tram entgegenkam auf dem Genf stand. Wir sind einfach eingestiegen und in die Stadt gefahren. So einfach war das – einfach unglaublich. Aber ein bisschen Glück muss man im Leben schon haben!»
Grenzübergang bei der Bahnstation Moillesulaz in Thônex, 1943.
Grenzübergang bei der Bahnstation Moillesulaz in Thônex, 1943. Staatsarchiv Aargau/Jean-Pierre Grisel/RBA1-10-93_1
Mutter und Tochter Blumenstein, die im Mai 1940 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen von Antwerpen nach Marseille geflohen waren, meldeten sich in Genf beim Territorialkommando und wurden von dort in das Auffanglager Camp des Charmilles gebracht, das am 28. September 1942 angesichts des zunehmenden Stroms jüdischer Flüchtlinge eröffnet worden war. Die Blumensteins, die in Marseille zwei Jahre lang vergeblich auf ihr Visum für die Vereinigten Staaten gewartet hatten, konnten sich wenige Tage vor der deutschen Besetzung Südfrankreichs noch weitgehend unbehelligt an die Schweizer Grenze retten. Schon einen Monat darauf wurde diese Reise für jüdische Frauen und Männer lebensgefährlich, denn unter dem deutschem Regime des gesamten französischen Territoriums verschärfte sich ihre systematische Verfolgung und Deportation dramatisch. Wie stark der Druck zunahm, lässt sich auch an den Aufnahmezahlen der Genfer Internierungslager ablesen. Im Camp des Charmilles wurden 1942 von Oktober bis Dezember 4463 Schutzsuchende registriert. Nicht alle wurden in der Schweiz aufgenommen.
Lilian und François Bondy haben gleich nach Kriegsende geheiratet.
Lilian und François Bondy haben gleich nach Kriegsende geheiratet. Keystone
Am 18. Dezember 1942 wandte sich das Eidgenössische Justiz und Polizei Departement mit einer Erhebung an die Kantone um die jeweilige Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen, abzuklären. Längst nicht alle beantworteten das Rundschreiben. Appenzell-Ausserrhoden meldete 25 Plätze an – falls unumgänglich. Der Tessin lehnte ab, St. Gallen sagte nur unter der Bedingung zu, dass die Emigranten gleichmässig auf die Kantone verteilt würden – was einer Absage gleichkam. Genf hingegen erklärte sich zu 400 Unterbringungen im Kanton bereit. Eine Zahl, die sich in wenigen Monaten verdreifachen sollte.
Flüchtlinge im Genfer Auffanglager Stade de Varembé, 1942.
Flüchtlinge im Genfer Auffanglager Stade de Varembé, 1942. Staatsarchiv Aargau/Willy Roetheli/RBA1-10-75_2
Der Stadtkanton war gemessen an der Sicherung der nördlichen und östlichen Landesgrenze ein durchlässiges Territorium. Am 4. April 1942, fünf Monate vor der fast hermetischen Verriegelung der Schweiz durch die Grenzschliessung vom 13. August, beklagte sich der Genfer Oberleutnant Coral beim Territorialkommando darüber, dass trotz der steigenden Beanspruchung an den 110 Kilometern kantonaler Landesgrenze immer weniger Personal und Fahrzeuge zur Verfügung gestellt würden und die Vorgesetzten nicht in der Lage seien, dies zu bereinigen. Doch es waren nicht nur diese Umstände, die es möglich machten, dass Genf trotz der rigorosen Flüchtlingspolitik des Bundes vielen verzweifelten Menschen zu einer «terre d’acceuil» wurde. Wie in der calvinistisch geprägten Rohne-Stadt geholfen wurde, zeigen die Bemühungen des dort ansässigen Conseil œcuménique, dem Vorläufer des Weltkirchenrats. Dieser hatte nach der Grenzschliessung nach Möglichkeiten gesucht, um verfolgte Menschen – Juden und Christen –, die sich in Frankreich versteckt hielten, legal in die Schweiz zu retten. Mit Hilfe kirchlicher Netzwerke wurden Namenslisten zusammengestellt, die im Herbst 1942 dem Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei Heinrich Rothmund präsentiert wurden. In zähen Verhandlungen gelang es, eine Quote von sogenannten Non-Refoulables fest zu legen. So wurden  Personen bezeichnet, die auch ohne gültige Dokumente an den Grenzübergängen nicht abgewiesen werden sollten. Dieses Arrangement rettete bis zum Kriegsende etwa 450 Menschen das Leben. Auf einer dieser Listen figurierte auch die 54-jährige, damals staatenlose Lilli Reckendorf, der es gelungen war aus dem Pyrenäen-Lager Gurs zu entkommen und die seither im Untergrund lebte. Ihre Erzählung der gefährlichen Reise an die Schweizer Grenze ist erhalten.
Porträt von Heinrich Rothmund.
Heinrich Rothmund, Chef der Schweizer Fremdenpolizei während des Zweiten Weltkriegs. Porträt von 1954. Dukas / RDB
Aufbruch am 22. Januar 1943. Wir nehmen Fahrkarten 2. Klasse. Eine alte, gepflegte aber nicht mehr denkfähige Jüdin mit ihrem besorgten Sohn, sie wollten wohl bei Chamonix passieren, fuhr ein Stück mit. In Annecy wimmelte es von Militär. In Annemasse kam keiner aus dem Bahnhof heraus ohne peinliche Papierkontrolle. Da hiess es ganz selbstverständlich tun. Natürlich nie zu sprechen. Wir gingen durchs Städtchen zu einem kleinen Restaurant, wo uns ein Passeur empfangen sollte. Im Restaurant verkehrte noch eine «zweifelhafte» Reisegesellschaft. Eine jüngere Frau kam mit Mann und Sohn und suchte verzweifelt Hilfe beim Wirt, um ein Loch hinüber zu finden. Wir nahmen den Omnibus Richtung Thonon. In Loisin stiegen wir aus und gingen zwei und zwei auf einem Feldweg. Unsere Begleiterin muss uns nun in eine Grenzferme leiten. Unsere Wegskizze ist schlecht gezeichnet. Als wir den Boden der Ferme betraten, kam unsere Begleiterin rausgewischt: «C’est bien ici, tout est réglé, déchirez vos papiers». Sie schwang sich aufs Rad und war weg. Jetzt ging es kreuz und quer durch Sumpf und Laub, durch Gras und über Pfade. Kein Posten war zu sehen. Mein Nebenmann wies auf den Stacheldraht. Der dreifache Verhau tat sich plötzlich auf, so breit, dass ein Heuwagen hätte hindurchfahren können und wir traten ins Niemandsland. Kurz wurde uns gezeigt, wie wir zu gehen hätten, um auf die Tramlinie zu stossen. Kurzer Abschied. Wir standen auf Ackerboden.
Bild von Lili Reckendorf in der Akte der Fremdenpolizei des Kantons Basel-Stadt.
Bild von Lili Reckendorf in der Akte der Fremdenpolizei des Kantons Basel-Stadt. Staatsarchiv Basel-Stadt, PD-REG 3a 47018
Wir mögen etwa 20 bis 30 Schritte gemacht haben, da hören wir den Anruf: Halte! Das ist deutlich ein Deutsch-Schweizer! Er führt uns an einem Posten vorbei zu Wache. Nun werden wir getrennt verhört. Nichts verraten. Wir wissen, dass wir nicht «refouliert» werden. Wieder Camion. Uns bleibt das Herz fast stehen – sie werden doch nicht? Doch nein. Wir sammeln noch andere nächtliche Grenzgänger auf einer Rundfahrt und werden dann in einer Kinderschule eines Genfer Vororts abgeliefert. Morgens früh konnte man sich ordentlich in Stand setzen und in einem anderen Schulzimmer aus bols Kakao trinken, Brot essen soviel man wollte. Ich musste staunen. Anderntags kam der nächste Schub und dann die ebenso überraschende wie erschütternde Botschaft, dass ich Aufenthaltsbewilligung und ein Visum habe.
Nachforschungen der Archives d'Etat de Genève ergaben, dass etwa 25’000 Einzelpersonen zwischen Sommer 1942 und Ende 1945 durch das Genfer Territorialkommando kontrolliert worden waren. Im selben Zeitraum – so die Annahme – seien 86 Prozent der Flüchtlinge, Juden, wie auch Nicht-Juden, nach ihrem ein- oder mehrmaligem Versuch die Grenze zu überwinden, aufgenommen worden. Von den an der Grenze zurückgewiesenen Personen waren 35 Prozent Jüdischen Glaubens. Seit 2016 erinnert in Genf eine Tafel an die ehemaligen Internierungslager des Kantons. Nicht alle, die damals den Weg in die Schweiz gefunden hatten, durften auch bleiben. Dass Wegweisung und Ablehnung einem Todesurteil gleichkam – auch daran wird erinnert.

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