Porträt von Dr. Jakob Robert Steiger, um 1845.
Porträt von Dr. Jakob Robert Steiger, um 1845. Zentralbibliothek Zürich

Feind der Luzerner Konservativen

Die Geschichte der Schweiz ist arm an Helden. Der Luzerner Liberale Jakob Robert Steiger war einer der wenigen Schweizer Politiker, die zu Lebzeiten Heldenstatus erreichten.

Heidi Bossard-Borner

Heidi Bossard-Borner

Heidi Bossard-Borner, Dr. phil., ist Historikerin und Autorin der dreibändigen Luzerner Kantonsgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Wer sich mit der Vorgeschichte des Bundesstaats von 1848 beschäftigt, stösst unweigerlich auf den Namen Jakob Robert Steiger. Der Luzerner Arzt und Politiker war seit den 1830er-Jahren eine bekannte Persönlichkeit. 1801, drei Jahre nach der Helvetischen Revolution, als Sohn einer kleinbäuerlichen Familie in Geuensee geboren, verkörperte er exemplarisch die Möglichkeiten, die die neue Zeit einem Abkömmling der ehemaligen Untertanen eröffnete, sofern er über Talent, Arbeitseifer und Durchsetzungskraft verfügte. Der junge Steiger besuchte die Dorfschule in Geuensee, lernte Latein bei einem Kaplan in Sursee und absolvierte in Luzern das Gymnasium und Lyzeum. Ein Theologiestudium brach er bald ab und studierte stattdessen Naturwissenschaften und Medizin in Genf, Freiburg i. Br. und Paris. 1826 wurde er als Arzt patentiert und eröffnete in seiner Heimatgemeinde Büron eine Praxis, die er 1831 nach Luzern verlegte. Am politischen Aufbruch des Jahres 1830, mit dem im Kanton Luzern die liberale Ära anbrach, war er als Wortführer des Surentals und Exponent der radikalen Richtung beteiligt. Er gehörte 1831 bis 1837 dem Regierungsrat an und vertrat den Kanton mehrfach an der Tagsatzung. Nach dem politischen Umschwung von 1841 bekämpfte er den katholisch-konservativen Kurs der neuen Regierung in der Oppositionszeitung Eidgenosse von Luzern.

Hast du ein bestimm­tes Recht so halte fest daran, das darf dir Niemand rauben. In dieser Beziehung hast du auch die Gewalti­gen und Mächtigen nicht zu fürchten.

Jakob Robert Steiger

Märtyrer und Held der Freischarenzüge

Zum Idol der freisinnigen Schweiz avancierte Steiger in der überhitzten politischen Atmosphäre der Jahre 1844/45. Die Berufung der Jesuiten nach Luzern lieferte damals den Anlass für einen Showdown zwischen Konservativen und Freisinnigen, bei dem es letztlich um die künftige Gestalt des eidgenössischen Bundes ging. Als Mitbeteiligter am verunglückten ersten Freischarenzug vom 8. Dezember 1844 verliess Steiger im Januar 1845, kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, den Kanton und schloss sich nach einigem Zögern anderen Geflohenen an, die in Aarau von einem zweiten, besser vorbereiteten Angriff auf das Luzerner «Jesuitenregime» träumten. Steigers Frau Sophie, die in Luzern die Stellung hielt und sich um die Kinder kümmerte, versorgte ihren Mann mit detaillierten Informationen über die politische und militärische Situation. Die weitverzweigten konspirativen Aktivitäten, in die auch etliche Aargauer und Berner Politiker involviert waren, kulminierten im zweiten Freischarenzug vom 31. März/1. April 1845. Er endete mit einer verheerenden Niederlage; fast 2000 Freischärler gerieten in Gefangenschaft.
Gefecht im Wald auf dem Gütsch bei Luzern während des zweiten Freischarenzugs von 1845.
Gefecht im Wald auf dem Gütsch bei Luzern während des zweiten Freischarenzugs von 1845. Schweizerisches Nationalmuseum
Dass auch Steiger auf der Flucht gefangen genommen und als einer der Hauptverantwortlichen zum Tode verurteilt wurde, versetzte die Gemüter allenthalben in Wallung. Das Schicksal des fürsorglichen Arztes und Familienvaters wurde von der freisinnigen Presse in einer hochemotionalen Kampagne ausgeschlachtet und bewegte die politische Elite und die einfachen Menschen gleichermassen. Eine Begnadigung kam für die konservativen Machthaber in Luzern nicht in Frage. Zu sehr fürchteten sie Steigers politischen Einfluss. Selbst sein Angebot, im Fall einer Freilassung den europäischen Kontinent zu verlassen, genügte ihrem Sicherheitsbedürfnis nicht. Einzige Alternative zur Vollstreckung des Todesurteils schien eine Internierung in einem ausländischen Staat; entsprechende Verhandlungen mit dem Königreich Sardinien waren angebahnt.
Während seiner Haft im Luzerner Kesselturm schreibt Jakob Robert Steiger die «kurzen Lebensregeln für meine lieben Söhne Robert und Wilhelm», Mai 1845.
Während seiner Haft im Luzerner Kesselturm schreibt Jakob Robert Steiger die «kurzen Lebensregeln für meine lieben Söhne Robert und Wilhelm», Mai 1845. Schweizerisches Nationalmuseum

Spekta­ku­lä­re Befreiung

Während das politische Establishment der Schweiz versuchte, Steiger durch diplomatische Interventionen zu retten, drängte Sophie Steiger seine Freunde zu konkreteren Aktionen. In Bern und Zürich wurden verschiedene Pläne geschmiedet. Ein Projekt sah vor, dem Gefangenen während der Deportation nach Savoyen zur Flucht zu verhelfen. Doch bevor diese Variante spruchreif war, wurde Steiger in der Nacht auf den 20. Juni 1845 von dreien seiner Bewacher aus dem vermeintlich ausbruchsicheren Verliess im Luzerner Kesselturm befreit. Die Aktion war von Zürich aus organisiert und mit 8000 Franken finanziert worden. Sie folgte einem quasi filmreifen Szenario, das Steiger möglicherweise selbst konzipiert hatte. In Zürich, wo Steiger gegen 9 Uhr morgens eintraf, wurde seine Ankunft «mit ungeheurem Jubel» quittiert. Die Weiterreise nach Winterthur gestaltete sich zu einem eigentlichen Triumphzug. Auch in den Nachbarländern und sogar in Nordamerika wurde Steigers Rettung gefeiert. Die Luzerner Behörden rächten sich für die Blamage, indem sie das Vermögen des Entflohenen konfiszierten und das Todesurteil in effigie vollstreckten.
Hinweis in der Eidgenössischen Zeitung vom 13. August 1845 auf die Vollstreckung des Urteils gegen Jakob Robert Steiger in effigie, also symbolisch.
Hinweis in der Eidgenössischen Zeitung vom 13. August 1845 auf die Vollstreckung des Urteils gegen Jakob Robert Steiger in effigie, also symbolisch. e-newspaperarchives.ch
Die Druckgraphik von 1845 zeigt Robert Steigers Gefangenschaft und Befreiung aus dem Kerker im Kesselturm Luzern.
Die Druckgraphik von 1845 zeigt Robert Steigers Gefangenschaft und Befreiung aus dem Kerker im Kesselturm Luzern. Auf den Seiten sind Steigers Frau und Kinder abgebildet, die um seine Befreiung beten, sowie oben rechts der trauernde Wilhelm Tell. Schweizerisches Nationalmuseum
Satirisches Blatt von 1845 zu Steigers Ausbruch aus dem Kesselturm
Satirisches Blatt von 1845 zu Steigers Ausbruch aus dem Kesselturm. In der Gestalt eines Löwen speist Josef Leu von Ebersol, ein populärer Exponent der Luzerner Konservativen, an den Knochen der Freischärler, während der durch ein Loch in der Mauer entflohene Jakob Robert Steiger unterwegs nach Zürich ist. Dazu heisst es: «Während der grosse Leu [...] frühstückte, meldete ihm ein Getreuer, dass Dr. Steiger entflohen sey. / Es wird behauptet, dass diese Hiobspost sehr nachtheilig auf seine Verdauungsorgane wirkte.» Schweizerisches Nationalmuseum
In Winterthur baute Steiger sich eine neue Existenz als Arzt auf. Seine Frau, die in Luzern die Liquidation des beschlagnahmten Vermögens überwachen wollte, wurde Ende Juli 1845 ausgewiesen und folgte ihrem Mann mit den Kindern nach Winterthur. Wegen Unterschlagung einiger Vermögenswerte wurde sie 1847 in Abwesenheit zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.
Kolorierter Druck mit den Porträts der Befreier von Jakob Robert Steiger
Kolorierter Druck mit den Porträts der Befreier von Jakob Robert Steiger: Korporal Birrer, alt Wachmann Kaufmann und Landjäger Hofmann. Die Befreier werden als Helden gefeiert. Ihr Abbild erscheint auf Druckgrafiken, Tabakdosen oder Taschentüchern. Schweizerisches Nationalmuseum

Nach dem Sonderbundskrieg

Der Sonderbundskrieg vom Herbst 1847, an dem er als Zürcher Sanitätsoffizier teilnahm, führte Steiger zurück nach Luzern. Vertrauensmann der ehemaligen Freischärler und Integrationsfigur in einem, spielte er eine zentrale Rolle bei der Neuordnung der politischen Verhältnisse. Er gelangte in den Grossen Rat und den Regierungsrat und gehörte der Tagsatzungskommission an, die die neue Bundesverfassung ausarbeitete. Im Oktober 1848 wurde er in den Nationalrat gewählt, den er 1849 präsidierte.
Im Regierungsrat betrieb Steiger energisch die Aufhebung des Klosters St. Urban. Das Klostervermögen sollte dazu dienen, die Schulden abzutragen, die nach dem Sonderbundskrieg auf dem Kanton lasteten. Wichtiger als der finanzielle Aspekt war für Steiger indes der politische: Wie schon in den 1830er-Jahren und beim Kampf gegen die Jesuiten liess er sich von der Überzeugung leiten, dass die Eidgenossenschaft als Bundesstaat nur gedeihen könne, wenn der klerikale Einfluss im Kanton Luzern zurückgebunden werde. Als Chef des Polizeidepartements sorgte Steiger für eine rigorose Kontrolle der konservativen Opposition. Nachdem sich die freisinnige Vorherrschaft – nicht zuletzt dank seiner harten Hand – konsolidiert hatte, trat er 1852 aus dem Regierungsrat und dem Nationalrat zurück. Im Grossen Rat fokussierte er seine Tätigkeit fortan auf materielle Fragen; sein besonderes Interesse galt der Eisenbahnpolitik. Im Übrigen konzentrierte er sich auf die ärztliche Praxis und betrieb naturkundlichen Studien. 1860 erschien sein Botanikbuch Die Flora des Kantons Luzern […] bearbeitet für das Volk und seine Lehrer.
Im April 1862 erlag Robert Jakob Steiger nach kurzer Krankheit einem Herzleiden. Der Todesmeldung fügte die NZZ eine knappe Würdigung bei: «An Steiger verlor das Vaterland einen ganzen Mann, die liberale Sache einen aufopferungsfähigen Anhänger und der Ultramontanismus einen stets gerüsteten Gegner.» Mit dieser Charakterisierung seines politischen Engagements wäre der Verstorbene zweifellos zufrieden gewesen.

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