Der Handel mit falschen Pässen florierte in den 1940er-Jahren. Auch in der Schweiz. Illustration von Marco Heer
Der Handel mit falschen Pässen florierte in den 1940er-Jahren. Auch in der Schweiz. Illustration von Marco Heer

Ein Pass für alle Eventualitäten

In den 1940er-Jahren wurde die Lage von Jüdinnen und Juden in Europa immer gefährlicher. Davon profitierten einige, die falsche Pässe exotischer Länder wie Honduras oder Paraguay ausstellten.

Naomi Lubrich

Naomi Lubrich

Naomi Lubrich ist Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz. Sie studierte Literaturwissenschaft und Kunst in New York und Berlin mit den Schwerpunkten Jüdische Studien und Kostümgeschichte.

«Sehr geehrter Herr Generalkonsul! Ich habe gerne von Ihrer Bereitwilligkeit Kenntnis genommen, auch mir einen Pass von HONDURAS auszufertigen, ebenso wie Sie dies für meine in Holland lebenden Kinder, Familie Wilhelm Neuburger-Gundelfinger, getan haben. [...] Ich weiss, dass der erbetene Pass in keiner Weise für die Reise und Einwanderung nach Amerika verwendet werden kann. Er soll mir einzig und allein für alle Eventualitäten, die sich ereignen könnten, dienen.» So schrieb am 5. Mai 1943 Johanna Gundelfinger-Nahm, genannt Jenny, an Alfons Bauer, den bestechlichen Generalkonsul von Honduras in Bern. Für einen Betrag zwischen 700 und 2000 Franken stellte er Jüdinnen und Juden honduranische Pässe aus – das entsprach damals zwei bis sechs Monatslöhnen einer Sekretärin. Dies allerdings ohne die Möglichkeit, nach Honduras auszureisen, denn 1943 nahm kein Land der Welt Jüdinnen und Juden auf, auch nicht Honduras. Die «Eventualitäten», gegen die der Pass helfen sollte, bedeuteten Lebensgefahr: 1943 wurden Millionen von Jüdinnen und Juden aus deutschbesetzten Gebieten in Vernichtungslager abtransportiert und ermordet.
Schreiben von Johanna Gundelfinger-Nahm an Alfons Bauer.
Schreiben von Johanna Gundelfinger-Nahm an Alfons Bauer. © Familie Wyler, Winterthur
Honduranischer Pass von Johanna Gundelfinger-Nahm ausgestellt im Mai 1943.
Honduranischer Pass von Johanna Gundelfinger-Nahm ausgestellt im Mai 1943. © Familie Wyler, Winterthur
Als der Judenhass Anfang der 1930er-Jahre in Deutschland zur Staatspolitik wurde, beschlossen Jenny Gundelfinger und ihr Ehemann Benno in die Schweiz auszuwandern. Sie bezogen eine Wohnung am Mythenquai 22 in Zürich. Ihre Tochter Irene und deren Familie hatten weniger Glück. Im März 1940 floh Irene mit ihrem Mann Wilhelm Neuburger und ihren Töchtern Erika und Marion von München nach Amsterdam, wo aber nur wenige Wochen später, im Mai 1940, die Deutschen die Macht übernahmen. Jenny Gundelfinger setzte von Zürich aus alle Hebel in Bewegung, um ihre Familie zu retten. Im August 1942 hatte sich Irene im Schweizer Konsulat in Amsterdam um die Wiederanerkennung der britischen Nationalität bemüht, was hätte gelingen können, denn sie wurde in Südafrika geboren. Eine Einreisemöglichkeit in die Schweiz hatte Jenny Gundelfinger im November 1942 für sie beschafft, aber die Einreise war nicht geglückt. Am 30. April 1943 gelang es ihr schliesslich, der Familie einen honduranischen Pass zu besorgen.
1942 versuchte Irene Neuburger-Gundelfinger, geboren in Südafrika, die englische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. © Familie Wyler, Winterthur
Der Pass half – aber nur bedingt. Er schützte die Amsterdamer Familie vor der Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz. Stattdessen kamen sie ins kaum weniger gefährliche Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zwar waren sie aufgrund des Passes als «Vorzugshäftlinge» gelistet und für einen Gefangenen-Austausch gegen Nazi-Sympathisanten im Ausland ausgewählt worden. Aber weil Wilhelm bereits bedrohlich geschwächt war, blieb die Familie bei ihm in Bergen-Belsen, in der Hoffnung auf seine Genesung. Irene verstarb 1943 unter den lebenswidrigen Um­ständen, und 1945 auch Wilhelm. Die Töchtern jedoch überlebten. Mehrere Monate nach Kriegsende durften sie endlich zur Grossmutter nach Zürich einreisen.
Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1945.
Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1945. Wikimedia
Dass Jenny Gundelfinger von Alfons Bauer lebensrettende Pässe erwerben konnte, war ein Glücksfall und hochgeheim, aber nicht einzigartig. Auch Rudolf Hügli, Honorarkonsul von Paraguay in Bern, Max Alfred Brunner, Konsul für Haiti in Zürich, sowie José María Barreto, Generalkonsul für Peru in Genf, profitierten von der Verfolgung der Juden. Sie stellten gegen Gebühr Pässe, Pass­kopien und Staatsbürgerschaftsbescheinigungen aus (während das Konsulat von El Salvador in Genf unentgeltlich half). Die Konsuln handelten in einem rechtlichen Graubereich. Sie waren zwar befugt, Dokumente auszustellen, hätten aber die von ihnen vertretenen Regierungen informieren müssen, die, wie Rudolf Hügli hinterher zugab, «die Einwanderung von Juden nach Paraguay verboten» hatten.
«Für die Leihgabe und für die Auskunft gilt mein herzlicher Dank Dina Wyler und ihrer Familie (Winterthur/Zürich).» Naomi Lubrich
Jenny Gundelfinger hatte auch aus einem anderen Grund Glück. Sie erhielt die Pässe wenige Tage bevor die Passersteller entdeckt wurden: Im April 1943 war die Bundes­anwaltschaft auf einen deutschen Spion, Heinrich Löri, gestossen, der sich bei einem Helfer der Passbeschaffer eingeschlichen hatte. Nach dessen Verhör durch die Bundes­anwaltschaft durchsuchten im Mai 1943 Beamte die Wohnungen von zahlreichen Beteiligten in Genf, Lausanne, Montreux und Zürich. Im Juli 1943 machte die Eid­genössische Polizei Meldung beim Aussenminister, Marcel Pilet-Golaz, der in Ab­sprache mit seinen Amtskollegen den Handel mit Pässen unterband. Alfons Bauer wurde im Dezember 1943 aufgefordert, sein Amt als Generalkonsul niederzulegen. Erika und Marion Neuburger gründeten in der Schweiz Familien. Sie blieben ihr Leben lang miteinander verbunden. Erika sprach als Überlebende über den Holocaust an Schweizer Schulen. Marion sprach darüber nicht einmal im Familienkreis.
Erika und Marion Neuburger gemeinsam mit Jenny Gundelfinger (Mitte) auf einer alten Fotografie und auf einem Bild von 2002. © Familie Wyler, Winterthur

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