
Ein Dorf auf Tauchgang
Was ist wichtiger: finanzielles Auskommen und Energieversorgung für eine ferne Stadt oder Heimat und Armut? Im bündnerischen Marmorera fiel das demokratisch erzielte Verdikt klar aus. Zürich brauchte Strom, viele Einheimische Geld, deshalb versank der Ort Mitte des 20. Jahrhunderts in den Fluten eines Stausees.
Weltweit wurden im letzten Jahrhundert zwei Billionen US-Dollar in Megadammbauprojekte investiert. Um 1900 existierten ungefähr 600 grosse Dämme, 1950 waren es bereits 5000 und im Jahr 2000 gab es weltweit 45’000 davon. Über 90 Prozent der grossen Dämme wurden zwischen 1960 und 2000 gebaut. Der Marmorera Staudamm entstand folglich in der frühen Phase des transnationalen Dammbau-Hypes (die Schweiz errichtete im transnationalen Vergleich schon früh Wasserkraftwerke. Das Albulawerk Sils nahm seinen Betrieb bereits 1910 auf).
Obwohl die Schweiz neben den USA und den skandinavischen Nationen eines der am besten elektrifizierten Länder war, warb man in den 1930er- und den 1940er-Jahren grosszügig für die «weisse Kohle» und die Wasserkraft, das «nationale Gut». Mit Erfolg, die Schweizer Bevölkerung stand folglich hinter dem Ausbau der Hydroenergie, der in der Nachkriegszeit effizient in Angriff genommen wurde.

Am 14. September 1955 wurde die Talsperre Marmorera Castiletto eingeweiht. Unter den Anwesenden waren neben dem Zürcher Stadtpräsidenten Emil Landolt auch lokale Politiker wie Gion Not Spegnas, Kreispräsident des Oberhalbsteins, sowie involvierte Unternehmer und Beamte. Während die illustren Gäste dem Festakt im hochalpinen Talbecken beiwohnten, produzierte die Anlage weiter unten in Tinizong, eine der drei Kraftwerkstufen, bereits Strom für Zürich. Der Stausee wirkte wie ein natürlicher Bergsee mit einem glatten Wasserspiegel, in dem das Sonnenlicht glitzerte. Doch das vermeintliche Bergidyll birgt ein Geheimnis. Auf dem dunklen Grund liegen die Ruinen des Dorfes Marmorera – einst eine florierende Gemeinde, die vor dem Bau des Albulatunnels vom Kutschenverkehr über den Julierpass profitierte, deren Bürgerinnen und Bürger seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch mehr schlecht als recht von der Landwirtschaft lebten.

Die Opposition um Nicolin Dora-Widmer fand, der Unterhändler habe sich unfair verhalten und die Familien gegeneinander ausgespielt, zumal einige kein Deutsch, sondern ausschliesslich Italienisch oder Rätoromanisch sprachen. Man bot den seit längerem in wirtschaftlicher Not lebenden Bauern für ein «Ja» bei der Abstimmung um die Konzession Beträge, die damals über dem Verkehrswert ihrer Grundstücke lagen. Der Druck wurde zusätzlich erhöht, indem man warnte, bei einem «Nein» und einer darauffolgenden allfälligen Enteignung, fiele die Entschädigung tiefer aus.
Andere wie der damalige Gemeindepräsident Florin Luzio-Ruinelli sahen die ökonomischen Vorteile für die einzelnen Familien und die verschuldete Gemeinde, an welche wegen des Erlasses des bündnerischen Wasserkraftgesetztes 1906 bei einer Annahme sämtliche Einnahmen aus der Wasserkraftnutzung gehen würden.


Heute ist die Schweiz, das Wasserschloss Europas, das Land mit der weltweit höchsten Staudammdichte. Es gibt bislang über 220 Talsperren und 60 Prozent der inländischen Stromproduktion deckt die Schweiz mit Wasserkraft ab. Der Marmorerastausee leistet als einer der mittelgrossen Schweizer Speicherseen seinen Anteil an diesem hydroenergetischen Erfolg.