Kinderausweis mit J-Stempel, ausgestellt 1939 in Memmingen.
Kinderausweis mit J-Stempel, ausgestellt 1939 in Memmingen. Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich

Die 300-Kinder-Aktion von 1939

1939 trafen 300 Kinder in der Schweiz ein. Sie sollten nach ein paar Monaten in andere Länder weiterreisen. Der Zweite Weltkrieg verhinderte dies und viele blieben während Jahren hier wie das Beispiel von Anneliese Laupheimer zeigt.

Sabina Bossert

Sabina Bossert

Sabina Bossert ist Fachreferentin für Jüdische Zeitgeschichte im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich.

1939 trafen rund 250 meist jüdische Kinder im Alter zwischen 6 und 16 Jahren aus dem süddeutschen Raum in der Schweiz ein. Die sogenannte 300-Kinder-Aktion wurde vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unter dem Eindruck der Novemberpogrome 1938 bewilligt und vom Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) durchgeführt. Sechs Monate sollten die Kinder in der Schweiz verbringen, um danach in ein sicheres Land weiterzureisen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchkreuzte die Pläne. Die Kinder blieben mehrheitlich sechs Jahre in der Schweiz, was ihnen das Leben rettete. Unter diesen Kindern war ein Schwesternpaar aus Memmingen, Anneliese und Lotte Laupheimer. Sie stammten aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie, der Vater Julius Laupheimer besass gemeinsam mit seinen Brüdern ein Herrenkonfektionsgeschäft. Ende 1938 wurde er verhaftet und vorübergehend im KZ Dachau interniert. Anneliese war damals elf Jahre alt und hatte eine geistige Behinderung.
Einreise in die Schweiz. Gruppenbild am Bahnhof Weinfelden, 1939.
Einreise in die Schweiz. Gruppenbild am Bahnhof Weinfelden, 1939. Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich
Viele der Kinder aus der 300-Kinder-Aktion wurden in Heimen untergebracht. Anneliese und Lotte hatten das Glück, dass sie in der Schweiz Bekannte hatten: Emma Zuberbühler, die in Memmingen eine Zeitlang als Hausangestellte der Familie Laupheimer gearbeitete hatte. Ihr Mann besass in Uster (ZH) ein Malergeschäft. Emma Zuberbühler nahm die Schwestern sowie zwei Cousinen, Ruth und Ilse Laupheimer, unbürokratisch bei sich auf. Im Sommer 1942 wurden die Eltern von Anneliese und Lotte nach Polen deportiert. In einer Postkarte vom 19. Juni 1942 schreibt die Jüdische Soziale Selbsthilfe Lublin, dass die Laupheimers sich «in Piaski, Kreis Lublin, befinden und gesund sind». In Piaski, das mit der deutschen Besetzung Polens Teil des Generalgouvernements war, wurde ab 1940 ein Ghetto eingerichtet, vorerst für polnische Jüdinnen und Juden, die im März 1942 ins Vernichtungslager Belzec deportiert wurden. Danach wurde das Ghetto zu einem Durchgangslager für deutsche Jüdinnen und Juden, die später in den Vernichtungslagern Auschwitz, Belzec, Sobibór und Treblinka ermordet wurden. Das Schicksal von Jeanette und Julius Laupheimer ist nicht im Detail bekannt; klar aber ist, dass sie den Zweiten Weltkrieg nicht überlebten. Eine ehemalige Nachbarin aus Memmingen, Else Günzburger, schrieb am 14. März 1946 an Emma Zuberbühler: «Beide Elternpaare und auch der ledige Onkel Herr David leben ja leider nicht mehr. Von den Juden in Memmingen leben nur mehr die Herrn aus den Mischehen, Gutman, Grünfeld und mein Mann[.]»
Schweizer Filmwochenschau von 1942. Schweizerisches Bundesarchiv
Die Familie Zuberbühler hatte wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ihre Gastfreundschaft so lange währen sollte. Die Betreuung der Mädchen muss eine grosse Aufgabe gewesen sein. Anneliese Laupheimer kam deshalb im November 1942 in ein Heim für behinderte Kinder in Uster. Mit dem Kriegsende veränderte sich viel für Anneliese. Ihre Schwester reiste 1946 in die USA aus, wo sie Walter Ullmann heiratete. Da nun klar war, dass Anneliese keine Familie mehr hatte, zu der sie zurückkehren konnte, und eine Auswanderung aufgrund ihrer Behinderung keine Option war, beantragte das SHEK für sie das Dauerasyl in der Schweiz. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste die Mehrzahl der Geflüchteten – getreu der Maxime der Schweiz, nur ein Transitland zu sein – in andere Länder weiterreisen. Die wenigen, die aus gesundheitlichen oder Altersgründen zurückblieben, lebten in einer Art Provisorium; für sie wurde 1947 der Status Dauerasyl eingerichtet. Insgesamt konnten nur knapp drei Prozent aller während des Zweiten Weltkriegs aufgenommenen Geflüchteten permanent in der Schweiz bleiben, also rund 1600 Personen. Davon erhielten 1345 Personen Dauerasyl, darunter auch Anneliese Laupheimer «wegen unheilbarer Krankheit».
Kinderausweis von Anneliese Laupheimer, 1940er-Jahre.
Kinderausweis von Anneliese Laupheimer, 1940er-Jahre. Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich
Die Betreuung der unterdessen 20-Jährigen ging vom SHEK zum Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen VSJF über. Der VSJF, ursprünglich als jüdische Fürsorgeorganisation gegründet, wurde während des Zweiten Weltkriegs vom Bund mit der Betreuung der jüdischen Flüchtlinge betraut. Der VSJF übernahm gemeinsam mit Bund und Kanton Zürich die Heimkosten für Anneliese Laupheimer (20 Dollar wurden regelmässig von Lotte Ullmann-Laupheimer überwiesen) und unterstützte sie bei ihren Wiedergutmachungsanträgen in Deutschland. Da Bund und Kanton davon ausgingen, dass sie im Erfolgsfall einen Teil der Ausgaben zurückerhalten würden, nahmen sie regen Anteil an den Fortschritten bezüglich einer Wiedergutmachung. Tatsächlich erhielten Anneliese und Lotte nicht nur einmalige Beträge zugesprochen; Anneliese erhielt zudem als Waise und weil sie aufgrund ihrer Behinderung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte, wegen der Ermordung ihrer Eltern eine lebenslange Rente vom deutschen Staat. Damit konnte Anneliese nicht nur ihren Lebensunterhalt (über ihre Vormundin) selbst bestreiten, sondern auch bereits bezogene Unterstützungsleistungen zurückzahlen.
Anneliese Laupheimer und eine weitere Heimbewohnerin, aufgenommen in den 1990er-Jahren.
Anneliese Laupheimer und eine weitere Heimbewohnerin, aufgenommen in den 1990er-Jahren. Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich
In einem Gutachten – Anneliese wurde, obwohl sie unterdessen über 30 war, nicht nur von einem Kinderarzt untersucht, sondern von diesem auch konsequent als Neutrum und als Kind bezeichnet – hiess es 1960: «Das Kind ist seit der Geburt gebrechlich. D.H. es hat eine starke Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule, hat sich aber trotzdem körperlich soweit entwickelt, dass es selbst gehen kann. Es kann auch selbst essen und wenn man es zur richtigen Zeit daran erinnert, kann es auch seine Notdurft verrichten. In geistiger Hinsicht ist es imbezil, wenn nicht idiotisch, auf alle Fälle geistig bildungsunfähig, weswegen es in unserer Anstalt untergebracht ist. Das Kind kann überhaupt nur leben, wenn es ständig von einer Drittperson geleitet und betreut wird. Abgesehen davon hat es manchmal psychische Störungen, die sich in einer furchtbaren Angst äussern und sich dann das Kind am Boden wälzt, bis es beruhigt werden kann. Aus all den Gründen ist es notwendig, dass das Kind wahrscheinlich für immer in unserer Anstalt […] bleiben muss.» Sowohl die Infantilisierung einer erwachsenen Frau mit geistiger Behinderung als auch die Begriffe Imbezillität und Idiotie sind aus heutiger Sicht problematisch, waren in der zeitgenössischen Psychiatrie jedoch gängige wissenschaftliche Terminologien.
Kennmarke von Anneliese Laupheimer mit Namen und Adresse in der Schweiz.
Kennmarke von Anneliese Laupheimer mit Namen und Adresse in der Schweiz. Die Marke aus den 1940er-Jahren wurde vermutlich als Halskette getragen, Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich
Weitere Wiedergutmachungsgelder, die Anneliese in den 1960er-Jahren erhielt, leitete der VSJF an die Familie ihrer Schwester in den USA weiter, die schwer krank war und nun selbst Unterstützung benötigte. Nach dem Tod von Lotte sprach der VSJF weitere 5000 DM ihren Hinterbliebenen (Walter und Lotte Ullmann hatten zwei kleine Kinder) zu. Der Witwer bedankte sich in einem emotionalen Brief für die Unterstützung: «Es soll dies von meiner Seite nicht vergessen werden. Die übersandte Summe war uns eine grosse Hilfe, da durch die langjährige Krankheit meiner lb. Frau meine Mittel fast aufgebraucht wurden.» Über lange Jahre war Ilse Wyler-Weil Annelieses Vormundin. Ilse Wyler, die ebenfalls mit der 300-Kinder-Aktion in die Schweiz gekommen war, hatte hier den Viehhändler Max Wyler geheiratet und lebte mit ihm in Uster. Regelmässig besuchte sie Anneliese, die sie als «sehr liebesbedürftig» sowie «lieb und brav, aber völlig unfähig sich irgendwie zu beschäftigen» bezeichnete, und brachte ihr kleine Geschenke zu ihren Geburtstagen und zu jüdischen Feiertagen mit. Anneliese Laupheimer verstarb im Jahr 2008 und wurde auf dem Israelitischen Friedhof Winterthur beerdigt. Da es weder Erben noch ein Testament gab, wurde ihr restliches Vermögen (abzüglich der Kosten für Beerdigung und Grabstein) dem VSJF, Ilse Wyler-Weil und der Hugo Mendel Stiftung zugesprochen.

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