Im Oktober 1944 kam es im Val Formazza nahe der Schweizer Grenze zu einem Kampf zwischen den sich zurückziehenden Partisanen und den deutschen und faschistischen Truppen. Einige Widerstandskämpfer konnten in die Schweiz flüchten.
Im Oktober 1944 kam es im Val Formazza nahe der Schweizer Grenze zu einem Kampf zwischen den sich zurückziehenden Partisanen und den deutschen und faschistischen Truppen. Einige Widerstandskämpfer konnten in die Schweiz flüchten. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza

Die Republik von Ossola

Im Herbst 1944 befreiten Partisanenverbände ein beachtliches Gebiet rund um Domodossola von den Deutschen und Faschisten und gründeten eine eigene Republik. Doch die Widerstandskämpfer waren zerstritten und nach einem guten Monat platzte der Traum vom eigenen Staat. Die Geschichte einer Tragödie vor den Toren der Schweiz.

Andrej Abplanalp

Andrej Abplanalp

Historiker und Kommunikations-Chef des Schweizerischen Nationalmuseums.

Das faschistische Italien beschloss am 25. Juli 1943, Mussolini abzusetzen, und beendete damit dessen gut 20-jährige Herrschaft. Nach der Niederlage auf Sizilien im August, unterzeichnete die Übergangsregierung von Pietro Badoglio einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Dieser trat am 8. September 1943 in Kraft. Das Dritte Reich reagiert sofort und begann, Italien zu besetzen und dessen Truppen zu entwaffnen. Teile der italienischen Armee gingen deshalb in den Widerstand. Diese Reaktion hat vor allem mit dem harten Vorgehen der Wehrmacht zu tun. Denn, entgegen dem zuvor gegebenen Versprechen, die italienischen Soldaten nach Hause zu schicken, wurden diese inhaftiert und bei Widerstand erschossen. Die Deutschen deportierten über 600'000 Soldaten in Arbeitslager ins Reich und in die besetzten Gebiete. Aus diesem Grund entstanden im Herbst 1943 in Nord- und Mittelitalien starke Guerillaformationen, welche die Deutschen in der Folge in zahlreiche Kämpfe verwickeln sollten.
Italienische Kriegsgefangene in Barletta 1943. Im Vordergrund deutsche Fallschirmjäger.
Italienische Kriegsgefangene in Barletta 1943. Im Vordergrund deutsche Fallschirmjäger. Wikimedia / Deutsches Bundesarchiv
In der Region Ossola, zwischen dem Wallis und dem Tessin gelegen, existierten im Sommer 1944 fünf aktive Partisanengruppierungen: die Monarchisten (ca. 1100 Mann), die Christdemokraten (ca. 800 Mann), zwei autonome Gruppierungen (ca. je 500 Mann) und die Kommunisten (ca. 900 Mann). Im September 1944 begannen die verschiedenen Guerillaformationen die Gebiete rund um Domodossola zu erobern, bis sie das Städtchen mit damals gut 10'000 Einwohnern schliesslich ganz eingeschlossen hatten. Darin befanden sich rund 400 deutsche und italienische Soldaten. Diese waren zwar gut ausgebildet und noch besser bewaffnet, überschätzten die Partisanen aber masslos und waren kriegsmüde. Obwohl die Angriffe wie gemeinsam geplant schienen, waren sie nicht abgesprochen und schon gar nicht koordiniert. Dieser eher «zufällige» Sieg über die deutschen und italienischen Besatzer verdeutlicht eines der grössten Probleme des norditalienischen Widerstandskampfs im Zweiten Weltkrieg: Die verschiedenen Guerillaformationen hatten sehr unterschiedliche politische Ausrichtungen und damit verknüpft auch andere politische Ziele. Deshalb gab es zwar gemeinsame Aktionen, aber auch immer wieder Rivalitäten und eine teilweise gefährliche Konkurrenz.
Ossolanische Partisanen in Aktion.
Ossolanische Partisanen in Aktion. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza

Der interne Machtkampf der Partisanen

Die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Partisanengruppen in der Region Ossola verschärften sich 1944. Am 9. September unterzeichneten die in Domodossola eingeschlossenen deutsch-italienischen Truppen einen Waffenstillstand mit den Widerstandskämpfern. Allerdings waren die kommunistischen Guerillas nicht Teil dieses Abkommens. Aus Zeitgründen, betonten die anderen Gruppierungen. Wahrscheinlicher war jedoch, dass letztere die erbeuteten Waffen unter sich aufteilen wollten. Ausserdem war bekannt, dass die Kommunisten den Befehl des Oberkommandos der Partisanen, des Corpo Volontari della Libertà (CVL), nicht mit dem Feind zu verhandeln, niemals brechen und so den angestrebten Waffenstillstand gefährden würden. Die Taktik der nicht kommunistischen Widerstandsgruppen war riskant, widersprach den gültigen Regeln jedoch nicht. Im Herbst 1944 existierte in der Region Ossola kein regionales CVL-Kommando, ergo galt die Anweisung aus Mailand für diese Zone nicht. Zumindest konnte man es so auslegen. Es kam deshalb zu mehreren heissen Aufeinandertreffen verschiedener Partisanengruppierungen und nur mit viel Glück und einigem Verhandlungsgeschick konnte ein bewaffneter Konflikt verhindert werden. Schliesslich zogen die deutschen und italienischen Soldaten am frühen Morgen des 10. Septembers Richtung Lago Maggiore ab. Am gleichen Tag wurde die Republik Ossola ausgerufen.
Die Regierung der Republik Ossola setzte sich aus sieben Männern zusammen. Präsident Ettore Tibaldi wurde nach dem Krieg Bürgermeister von Domodossola und nationaler Politiker.
Die Regierung der Republik Ossola setzte sich aus sieben Männern zusammen. Präsident Ettore Tibaldi wurde nach dem Krieg Bürgermeister von Domodossola und nationaler Politiker. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza
Die Republik Ossola existierte im Herbst 1944 etwas über einen Monat.
Die Republik Ossola existierte im Herbst 1944 etwas über einen Monat. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza

Kommunis­ti­scher Alleingang

Doch die kommunistischen Widerstandskämpfer gaben ihren Machtanspruch nicht auf. Im Gegenteil. Am 13. September griffen sie im Alleingang das Arbeiterstädtchen Gravellona, gut 30 Kilometer südlich von Domodossola, an. Mit einem glorreichen Sieg wollten sie ihr angekratztes Image aufpolieren und eine stärkere Beteiligung an der Republik Ossola erzwingen. Das hätte unter Umständen auch funktionieren können, denn Gravellona war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und quasi der südliche Zugang zur Republik. Doch der Plan scheiterte. Zu stark war der Gegner. Nach zwei Tagen wurde den kommunistischen Partisanen klar, dass sie verlieren würden. Erst jetzt forderten sie bei den anderen Widerstandskämpfern Hilfe an. Diese schickten zwar einige Männer, liessen sich aber Zeit damit. Diese halbherzige Unterstützung besiegelte die Niederlage endgültig. Dieser 13. September 1944 ist beispielhaft und zeigt, dass die Taten der Widerstandskämpfer in der Ossolaregion oft mehr von Eigennutz als vom Freiheitsgedanken bestimmt waren. Es ging den Partisanen vor allem um den eigenen Einfluss auf die momentane und künftige Politik des beherrschten Gebiets.
Die ungefähren Grenzen der Partisanenrepublik Ossola im Herbst 1944.
Die ungefähren Grenzen der Partisanenrepublik Ossola im Herbst 1944. Karte: swisstopo / Montage: Schweizerisches Nationalmuseum

Eine Republik!

Die ständige Konkurrenz zwischen den verschiedenen Partisanengruppen soll jedoch die Leistung der Republik Ossola nicht schmälern. Bis zur Rückeroberung des Gebiets durch deutsch-italienische Truppen zwischen dem 9. und 14. Oktober 1944 legte der kleine Staat an der Grenze zur Schweiz ein enormes Entwicklungstempo hin. Die provisorische Regierung, in der trotz aller Differenzen auch die Kommunisten vertreten waren, setzte ein gemeinsames Militärkommando ein, gründete ein überregionales Polizeikorps, die Guardia Nazionale, machte die Pressefreiheit wieder möglich, produzierte eigene Briefmarken und organisierte das Schulsystem neu. Ausserdem löste sie die faschistische Gewerkschaft auf und belebte den öffentlichen Verkehr mit der Schweiz wieder. Die ersten Züge fuhren bereits am 11. September in den Bahnhof von Domodossola ein.
Die junge Republik hatte sogar eine eigene Fahne.
Die junge Republik hatte sogar eine eigene Fahne. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza
Im Nachkriegsitalien wurde die Republik Ossola immer wieder als Modell für einen demokratischen Staat betrachtet. Ein Modell, das innert kürzester Zeit eine funktionierende Zivilverwaltung hervorgebracht hatte. Wer hätte gedacht, dass es schon einige Tag nach der Proklamation der Republik möglich war, wieder in die Schweiz zu telefonieren!

Das Ende der Republik

Gegen Ende September, als die Deutschen realisierten, dass die Alliierten an der Gotenlinie feststeckten, reorganisierten sie ihre Streitkräfte, um der Republik Ossola ein Ende zu bereiten. Einerseits wurden faschistische italienische Soldaten, die in Deutschland ausgebildet worden waren, in die Nähe der Republik verlegt. Andererseits zogen Wehrmacht und SS zirka 30 Einheiten zusammen. Die rund 3000 ossolanischen Partisanen standen nun einigen tausend schwer bewaffneten und kriegserfahrenen Soldaten gegenüber. Doch die Guerillas blieben gelassen, denn sie rechneten fest mit der Hilfe der Alliierten. Nicht ganz zu Unrecht. Am 25. und 26. September hatten alliierte Jagdbomber deutsche Stellungen in Gravellona und Baveno bombardiert und das Signal zum Abwurf von Waffen und Munition war von Radio London bereits zum zweiten Mal ausgestrahlt worden. Die Widerstandskämpfer hatten mehrere Abwurffelder und sogar zwei Flugplätze im Valle Vigezzo sowie zwischen Domodossola und Villadossola angelegt. Sie waren überzeugt, dass die Hilfe bald kommen würde. Doch die Alliierten änderten ihre Pläne kurzfristig und konzentrierten sich auf die Geschehnisse in Polen. Dort hatte die polnische Heimatarmee am 1. August 1944 die deutschen Besatzer angegriffen. Die rund 40'000 Kämpfer versuchten Warschau vor den schnell vorrückenden Sowjets zu erobern. Nur dank massiver Hilfe der westlichen Alliierten, vor allem durch Abwürfe von Material und Waffen, konnte die polnische Heimatarmee diesen unerbittlichen Kampf einige Wochen ausgeglichen gestalten. Doch das war nicht genug. Die Aufständischen mussten am 2. Oktober 1944 kapitulieren. Der Warschauer Aufstand hatte die Strategie der Alliierten vollständig verändert. Mit fatale Folgen für die Partisanen im Ossolagebiet und den Widerstand in ganz Italien. Praktisch der gesamte Nachschub wurde in diesen Wochen nach Polen geliefert. Die dringend benötigten Ressourcen zur Verteidigung der kleinen Republik fehlten vollständig.
Die Partisanen mussten im Oktober 1944 einen hohen Preis für die kurzfristig erkämpfte Freiheit bezahlen. Krankenschwester Maria Peron kümmerte sich um viele verletzte Widerstandskämpfer.
Die Partisanen mussten im Oktober 1944 einen hohen Preis für die kurzfristig erkämpfte Freiheit bezahlen. Krankenschwester Maria Peron kümmerte sich um viele verletzte Widerstandskämpfer. Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza
Am 9. Oktober 1944 begann die Rückeroberung der Region durch deutsche und faschistische Truppen. Die Partisanen konnten zwar einige Tage Widerstand leisten, doch die Übermacht war zu gross und die Zusammenarbeit der verschiedenen Guerillaformationen nach wie vor zu unkoordiniert, um das Vorrücken der Besatzer zu verhindern. Am 14. Oktober 1944 marschierten die deutsch-italienischen Truppen in Domodossola ein, am 23. Oktober wurde die Republik aufgelöst und über 10’000 Menschen flüchteten in die Schweiz. Zwei Drittel der Partisanen waren gefallen oder ebenfalls über die Grenze geflohen. Die Erwachsenen wurden in Flüchtlingslagern untergebracht, die Kinder auf Gastfamilien in der ganzen Schweiz verteilt. Dass der Nachbarstaat im Herbst 1944 seine Grenzen ohne grosse Bürokratie geöffnet hatte, ist bis heute im Gedächtnis der Bevölkerung des Ossolatals haften geblieben.
Flüchtlinge aus dem Ossolagebiet beim Grenzübertritt in Gondo (VS), 1. Oktober 1944.
Flüchtlinge aus dem Ossolagebiet beim Grenzübertritt in Gondo (VS), 1. Oktober 1944. Staatsarchiv Aargau / RBA
Zwar gab es auch danach Partisanentätigkeiten in der Region Ossola, jedoch nie mehr in der Grössenordnung, welche im Herbst 1944 zur Gründung der Republik geführt hatten. Immerhin funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Widerstandformationen in diesem letzten Kriegsjahr wesentlich besser.

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