Die Republik von Ossola

Im Herbst 1944 befreiten Partisanen ein beachtliches Gebiet rund um Domodossola von den Nazis und gründeten eine eigene Republik. Doch die Widerstandskämpfer waren zerstritten und nach einem guten Monat wurde der Traum vom eigenen Staat beendet. Die Geschichte einer Tragödie an der Grenze zur Schweiz.

Andrej Abplanalp

Andrej Abplanalp

Historiker und Kommunikations-Chef des Schweizerischen Nationalmuseums.

Am 3. September 1943 kapitulierte das faschistische Italien bedingungslos. Das Dritte Reich begann sofort mit der Besetzung des Landes und der Entwaffnung dessen Truppen. Teile der italienischen Armee gingen in den Widerstand und wurden zu Partisanen. Diese Reaktion hat vor allem mit dem harten Vorgehen der Wehrmacht zu tun. Denn, entgegen dem gegebenen Versprechen, die italienischen Soldaten nach Hause zu schicken, wurden diese inhaftiert und bei Widerstand erschossen. So entstanden im Herbst 1943 in Nord- und Mittelitalien starke Guerillaformationen, welche die Deutschen in der Folge in zahlreiche Kämpfe verwickeln sollten.

Im Ossolagebiet, zwischen dem Wallis und dem Tessin, existierten im Sommer 1944 fünf aktive Partisanengruppierungen: die Monarchisten (ca. 1100 Mann), die Christdemokraten (ca. 800 Mann), zwei autonome Gruppierungen (ca. je 500 Mann) und die Kommunisten (ca. 900 Mann). Im September 1944 begannen die verschiedenen Guerillaformationen die Gebiete rund um Domodossola zu erobern bis sie das Städtchen schliesslich ganz eingeschlossen hatten. Darin befanden sich zu dieser Zeit rund 400 deutsche und italienische Soldaten. Diese waren zwar gut ausgebildet und noch besser bewaffnet, überschätzten die Partisanen aber masslos und waren kriegsmüde. Obwohl die Angriffe von allen Seiten wie von einer Hand geplant schienen, waren sie nicht abgesprochen und wirkten nur zufällig wie koordiniert. Damit wären wir bei einem der grössten Probleme des Partisanenkriegs in Italien: Die verschiedenen Guerillaformationen hatten andere politische Ausrichtungen und damit verknüpft auch andere politische Ziele. Deshalb gab es zwar gemeinsame Aktionen, aber auch immer wieder Rivalitäten und eine gefährliche Konkurrenz.

Der interne Machtkampf der Partisanen

Die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Partisanengruppen waren auch im Ossolatal spürbar. Am 9. September 1944 unterzeichneten die in Domodossola eingeschlossenen deutsch-italienischen Truppen einen Waffenstillstand mit den Partisanen. Allerdings waren die kommunistischen Guerillas nicht Teil dieses Abkommens. Aus Zeitgründen, betonten die anderen Gruppierungen. Doch eigentlich wollten die restlichen Partisanen die erbeuteten Waffen unter sich aufteilen. Ausserdem wussten sie, dass die kommunistischen Widerstandskämpfer von ihrem Oberkommando den Befehl erhalten hatten, nicht mit den Deutschen zu verhandeln. Das hätte den angestrebten Waffenstillstand gefährdet. Es kam deshalb zu mehreren heissen Aufeinandertreffen der verschiedenen Partisanengruppierungen und nur mit viel Verhandlungsgeschick und Glück konnte ein bewaffneter Konflikt verhindert werden. Schliesslich zogen die Soldaten der Wehrmacht und die italienischen Faschisten am 10. September ab. Am gleichen Tag wurde die Republik Ossola ausgerufen.

Doch die kommunistischen Widerstandskämpfer gaben ihren Machtanspruch nicht auf. Am 13. September griffen sie im Alleingang das Städtchen Gravellona im Süden von Domodossola an. Mit einem glorreichen Sieg wollten sie ihr angekratztes Image aufpolieren und eine Beteiligung an der Regierung der Republik Ossola erzwingen. Als sie merkten, dass sie die dort stationierten Nazi-Faschisten (vermischte Truppe bestehend aus Soldaten der Wehrmacht, der SS und der italienischen Sozialrepublik) nicht vertreiben konnten, forderten sie bei den anderen Partisanenverbänden Hilfe an. Diese schickten zwar einige Männer, jedoch mit einer zeitlichen Verzögerung und in nur geringer Anzahl. Die Niederlage war nicht mehr abzuwenden. Dieser 13. September ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Taten der Widerstandskämpfer im Ossola und in ganz Norditalien oft mehr vom Eigennutz als vom Freiheitsgedanken bestimmt waren. Es ging den Partisanen vor allem um den eigenen Einfluss auf die künftige Politik des beherrschten Gebiets.

Die Republik Ossola

Die ständige Konkurrenz zwischen den verschiedenen Partisanengruppen soll jedoch die Leistung im Ossola nicht schmälern. Bis zur Rückeroberung des Gebiets durch deutsch-italienische Truppen zwischen dem 9. und 14. Oktober 1944 legte die junge Republik ein enormes Entwicklungstempo hin. Die provisorische Regierung, in der trotz aller Differenzen auch die Kommunisten vertreten waren, setzte ein gemeinsames Militärkommando ein, gründete ein überregionales Polizeikorps, die Guardia Nazionale, machte die Pressefreiheit wieder möglich, produzierte eigene Briefmarken und organisierte das Schulsystem neu. Ausserdem löste sie die faschistische Gewerkschaft auf und organisierte den öffentlichen Verkehr mit der Schweiz, der schon nach wenigen Tagen wieder einwandfrei funktionierte. Im Nachkriegsitalien wurde die Republik Ossola immer wieder als Modell für einen demokratischen Staat betrachtet. Ein Modell, das zwar innert kürzester Zeit eine funktionierende Administration hervorgebracht hatte, jedoch bereits im Oktober 1944 wieder zusammenbrach.

Der Zusammenbruch der Republik

Ende September wurden 13‘000 italienische Soldaten, die in Deutschland ausgebildet worden waren, in die Nähe der Republik Ossola verlegt. Ausserdem zogen die Wehrmacht und die SS rund 3000 Mann zusammen. Diesen 16‘000 schwer bewaffneten Soldaten standen rund 3000 Partisanen gegenüber. Doch die Guerillas blieben gelassen. Sie rechneten fest mit der Hilfe der Alliierten. Am 25. September hatten zwei Jagdbomber die deutschen Stellungen in Gravellona und Baveno bombardiert und Radio London hatte bereits zum zweiten Mal das Signal zum Abwurf von Waffen und Munition ausgestrahlt. Die Widerstandskämpfer hatten zuvor zwei Flugfelder angelegt. Doch die Alliierten änderten in letzter Minute ihre Pläne und konzentrierten sich auf Jugoslawien.

Die Partisanen konnten zwar einige Tage Widerstand leisten, doch die Übermacht war zu gross und die Zusammenarbeit der verschiedenen Guerillaformationen zu unkoordiniert, um die Rückeroberung des Ossolas durch die Nazi-Faschisten zu verhindern. Am 14. Oktober 1944 marschierten die deutsch-italienischen Truppen in Domodossola ein, am 23. Oktober wurde die Republik aufgelöst und 35‘000 Ossolaner flüchteten in die Schweiz. Zwei Drittel der Partisanen waren gefallen oder ebenfalls über die Grenze geflohen. Die Erwachsenen wurden in Flüchtlingslagern untergebracht, die Kinder auf Gastfamilien in der ganzen Schweiz verteilt. Dass die Schweiz im Herbst 1944 ohne grosse Bürokratie geholfen hat, ist bis heute im Gedächtnis der Bevölkerung des Ossolatals.

Die Republik Ossola existierte im Herbst 1944 etwas über einen Monat. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Die Republik hatte sogar eine eigene Flagge. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Ossolanische Partisanen in Aktion. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Die ungefähren Grenzen der Republik Ossola.

Partisanen liefern sich im Oktober 1944 im Val Formazza, nahe der Schweizer Grenze, ein Rückzugsgefecht mit den Nazi-Faschisten. Wer konnte, flüchtete in die Schweiz. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Flüchtlinge aus dem Val d'Ossola (Italien) beim Grenzübertritt in Gondo, 1. Oktober 1944. Foto: Fotograf unbekannt, Staatsarchiv Aargau/RBA

Die Krankenschwester Maria Peron kümmerte sich im Ossolatal um die verletzten Partisanen. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Die Regierung der Republik Ossola setzte sich aus sieben Männern zusammen. Präsident war Ettore Tibaldi. Er wurde später Bürgermeister von Domodossola und nationaler Politiker. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

Kinder aus dem Ossolagebiet wurden vom Schweizerischen Roten Kreuz bei Schweizer Familien einquartiert. Wie diese Kinder, welche 1944 in Brig angekommen sind. Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara - Fondo Resistenza

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