
Kein grosser Bahnhof für «Die Opfer der Arbeit»
Die Eröffnung des Gotthard-Eisenbahntunnels vor 140 Jahren inspirierte auch Künstler. Der bedeutende Tessiner Bildhauer Vincenzo Vela entwarf damals das Denkmal «Die Opfer der Arbeit». Das Schlüsselwerk stiess jedoch auf wenig Gegenliebe.
Der damals noch kaum bekannte Zürcher Bildhauer Richard Kissling (1848-1919) zeigte eine Skulptur von Alfred Escher. Dieser war die treibende Kraft hinter dem Bau des 1882 eröffneten Gotthard-Eisenbahntunnels gewesen. Kisslings Gipsmodell führte dazu, dass der Künstler 1884 den Auftrag für den bis heute vor dem Zürcher Hauptbahnhof befindlichen monumentalen Alfred-Escher-Brunnen erhielt. Daneben zeigte Kissling ein Modell der Figurengruppe «Zeitgeist». Es war sein Vorschlag für ein Gotthard-Denkmal. Die Plastik besteht aus einer nackten männlichen Figur, die mit enthusiastisch gerecktem Arm nach vorne blickt und auf einem geflügelten Schienenwagen sitzt. Rechts und links kauern muskulöse Arbeiter mit ihrem Werkzeug. Dieser «Zeitgeist» krönt seit 1907 das Portal des Luzerner Bahnhofs.
Vela bezieht sich zwar ebenfalls auf die kunsthistorische Überlieferung. Er interpretiert diese aber neu. So zitiert er das durch römische Sarkophage vermittelte, seit der Frührenaissance häufig für christliche Grabtragungsszenen aufgegriffene Motiv des Tods des Meleager. Insbesondere der herunterhängende Arm des Opfers («braccio pendente») gilt als klassische Bildformel. Zugleich sind Velas Arbeiter und ihr Elend, anders als bei Kissling, das eigentliche Thema. Damit scheint der Künstler eine Zeile aus dem berühmten Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters» von Bertolt Brecht vorwegzunehmen: «Wer baute das siebentorige Theben?» Nicht der König, sondern Tausende von Arbeitern.
Diese verantwortete vor allem der aus der Westschweiz stammende Ingenieur und Unternehmer Louis Favre. Favre hatte bei der Ausschreibung des Tunnelbaus seine Konkurrenz unterboten. Daher hatte er den Zuschlag bekommen. Favre starb selber bei einer Besichtigung des Tunnels 1879 kurz vor dem Durchstich an Herzversagen.
Zum Zeitpunkt der Einladung zur Landesausstellung gehörte der in 1820 in Ligornetto geborene Künstler zu den auch international bedeutenden Bildhauern des 19. Jahrhunderts. Vela löste sich immer mehr vom klassizistischen Stil, der während seiner Jugend noch verbreitet war. Er wandte sich dem realistischeren Körperbild des italienischen «Verismo» zu. Heute zählt er zu dessen wichtigen Vertretern. Der «Verismo» hat der modernen Skulptur seit Rodin den Weg bereitete.
Vela gab seine Lehrtätigkeit 1867 auf, um sich nach Ligornetto zurückzuziehen. Dort richtete er seine Villa mit Atelier und Privatmuseum ein. In seinem Werk gibt es etliche Hinweise darauf, dass er ein reformorientierter, politisch wacher Zeitgenosse war. Neben dem «Spartacus» schuf er in Como ein Denkmal für Garibaldi, den italienischen Befreiungskämpfer des «Risorgimento». Seine Villa samt der darin enthaltenen Kunst – darunter zahlreiche Gipsmodelle seiner berühmten Skulpturen – vermachte der Künstler, der zeitweise Tessiner Grossrat war, der Eidgenossenschaft. Im bis heute von der Eidgenossenschaft unterhaltenen Museum hat das Gipsmodell der «Opfer der Arbeit» einen prominenten Platz.
Das ist wenig erstaunlich. Denn Velas Entwurf erlebte seit seiner Ausstellung in Zürich 1883 eine steile mediale Karriere. Zeitschriften und Zeitungen druckten Reproduktionen davon ab. Der im Selbstmarketing erfahrene Vela hatte eine Fotografie des Modells in Umlauf gebracht. Ab 1904 taucht das Werk regelmässig in Tessiner Schulbüchern auf; und in einem Geschichtsbuch des Kantons Zürich trifft man es auch 2009 noch an.
Der Prophet im eigenen Land…
In der Schweiz hatte trotz des Beifalls vorerst niemand Interesse an einem Bronzeguss. Entsprechende Vorstösse scheiterten. Erst mit dem bevorstehenden 50-Jahr-Jubiläum der Tunneleröffnung 1932 änderte sich dies. Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB, unterstützt vom Bundesrat sowie der Eidgenössischen Kunstkommission, waren nun an Velas Denkmal interessiert und berappten die insgesamt 30’000 Franken für den Guss (nach heutigem Wert rund 250’000 Franken). Das Werk wurde nach einigem Hin und Her auf dem Bahnhofsvorplatz von Airolo platziert.
Doch fristete das Werk dort eher ein Schattendasein. Italienreisende stiegen in Airolo selten aus, und die Popularität des Denkmals bliebt weiterhin hauptsächlich auf das Bildsujet beschränkt, etwa für Postkarten, und 1955 wird es gar im Text einer Ovomaltine-Werbung erwähnt. Mit der NEAT hat sogar der alte Tunnel an Bedeutung verloren.
Gerade vor diesem Hintergrund jedoch lohnt sich ein frischer Blick auf Vincenzo Velas «Opfer der Arbeit», insbesondere im Vergleich mit Richard Kisslings «Alfred Escher»-Brunnen und seiner «Zeitgeist»-Skulptur. Velas Werk ist, im Unterschied zu manch allegorischem Bombast aus dem 19. Jahrhundert, gut gealtert. Es lässt sich, in Anlehnung an den Kunsthistoriker Gian Caspar Bott, sogar als Beitrag zur aktuellen Denkmal-Debatte verstehen. Vela liefert gleichsam das Gegenstück zum Escher-Monument, zumal der damit gefeierte Held der fortschrittlichen Schweiz inzwischen auch wegen der kolonialen Verstrickungen seiner Familie ins Zwielicht geraten ist.
Bezogen auf Velas Karriere kann man die «Opfer der Arbeit» als kritischen, ja selbstkritischen Kommentar des alternden Künstlers zur überbordenden Denkmalkultur seines Jahrhunderts sehen. Thematisch schliesst er mit seinem Relief an den «Spartacus» aus seinen jungen Jahren an, dem er seinen fulminanten Aufstieg wesentlich verdankte.


