Göschenen und der Gotthardtunnel auf einer Fotochromolithografie von 1900.
Schweizerisches Nationalmuseum

Durchbruch am Gotthard

1880 gelang der Durchbruch durch den Gotthard. Der neue Eisenbahntunnel veränderte die Schweiz massgeblich: Viele Regionen profitierten, einige stagnierten.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

«Durch!» Am 1. März 1880 erschien auf der Frontseite der NZZ der vielleicht kürzeste Titel ihrer Geschichte. Ein Wort – und jeder wusste, was gemeint war: Die Arbeiter am Gotthard hatten den Berg bezwungen. Nord- und Südstollen hatten sich getroffen, das Werk war geschafft.

Es war ein steiniger Weg gewesen. Die Schweiz war spät ins Eisenbahnzeitalter gestartet und nach der Eröffnung von Brenner (1867) und Mont Cenis (1871) befürchteten einige Zeitgenossen, das Land könnte umfahren werden. Die Schweiz brauchte also einen Tunnel – aber wo? Die Westschweiz favorisierte den Simplon, die Ostschweiz den Lukmanier. Beides Pässe, über die traditionell mindestens so viele Güter transportiert wurden wie über den Gotthard. Der setzte sich am Ende aber vor allem dank Alfred Escher durch. Italien investierte 45, die Schweiz und das Deutsche Reich je 20 Millionen Franken. Weitere gut 100 Millionen kamen von Privaten.

1872 wurde der Bauvertrag unterzeichnet. Wenig später wuchsen Göschenen und Airolo zu Arbeiterstädten heran, in denen tausende (vor allem italienische) Mineure auf engstem Raum zusammenlebten. Die Bedingungen waren miserabel: Enge, Armut, Krankheiten, Kriminalität. Die Arbeiter schliefen in stickigen Kammern auf faulenden Strohsäcken. 1875 kam es in Göschenen zum Streik; die komplett überforderte Polizei schoss in die Menge und tötete vier Personen. 1879 starb auch der leitende Ingenieur Louis Favre durch Herzversagen im Tunnel. 194 weitere Menschenleben forderten Steinschläge, Felsstürze und andere Arbeitsunfälle – so jedenfalls die offiziellen Zahlen; die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein.

Letztlich beschloss der Bund ,einzugreifen. Er verpflichtete das Bauunternehmen, für mehr Sicherheit zu sorgen. Überhaupt war der Zentralstaat ein Gewinner der Gotthardbahn. Sie war das erste Projekt, das die Möglichkeiten der Kantone deutlich überstieg. 1882 wurde das Werk offiziell eröffnet und verband im Güterverkehr von nun an Nord und Süd, Deutschland und Italien. Ein Bau, vergleichbar mit dem Suezkanal. Die spektakulären Brücken, Trassen und Kehrtunnel zogen Touristen aus aller Welt an und die Kirche von Wassen fehlte in keinem Reiseführer.

Dass gerade die NZZ über den Tunnel jubelte, war symptomatisch: Von der Eisenbahn profitierten primär die Städte. Am Gotthard selbst waren ihre Folgen eher negativ. Säumer und Kutscher verloren ihre Arbeit und die Bergbauern mussten nun mit der Konkurrenz aus halb Europa mithalten – was oft nicht gelang. Schon 1888 lebten deshalb mehr Hospenthaler in den USA als im Urserental.

Die Ausgabe der NZZ vom 1. März 1880.
NZZ Archiv

Fotografie des Gotthard-Eingangs, um 1875. Gut zu erkennen sind die drei posierenden Männer an der Wand und beim Waggon.
Schweizerisches Nationalmuseum

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