Ausschnitt aus einer Gedenktafel an die Verfassungsrevision von 1874. Erst im Rahmen dieser Revision wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle – auch für die jüdische Minderheit – festgeschrieben.
Ausschnitt aus einer Gedenktafel an die Verfassungsrevision von 1874. Erst im Rahmen dieser Revision wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle – auch für die jüdische Minderheit – festgeschrieben. Schweizerisches Nationalmuseum

Religi­ons­frei­heit – ein fremder Gast in unseren Tälern

Die Bundesverfassung wurde erst 1874 mit der Gewährung der Religionsfreiheit für die jüdische Minderheit eine säkulare. Heute gibt es in der Bundesverfassung noch zwei Ausnahmeartikel gegen die muslimische Minderheit.

Josef Lang

Josef Lang

Dr. phil. Josef Lang ist freischaffender Historiker in Bern und ehemaliger Zuger Nationalrat.

Im Juni 1870 schrieb der Bundesrat in seiner Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung: «Der Gedanke der religiösen Freiheit entstand in dem freien Land jenseits des Oceans; er kam als ein fremder, mit vielem Misstrauen angesehener Gast nach dem alten Europa zurück und auch da nicht zum ersten in unsere Täler.» Die Schweiz sei zwar «das Land der politischen Freiheit», aber die «religiöse Freiheit» sei «von jeher durch Gesetz und Sitte sehr beschränkt» geblieben. Bereits die Bundesverfassung von 1848 hat die politische Freiheit über die Religionsfreiheit gestellt. Immerhin hat sie die Gleichstellung der christlichen Konfessionen und Staatsbürger festgeschrieben. Das bedeutete, dass Katholiken auch in protestantischen und Protestanten auch in katholischen Kantonen die Niederlassungs- und Glaubensfreiheit sowie die politischen Rechte bekamen. Was für ein Riesenschritt das war, zeigt die massive Gegenkampagne im Sommer 1848. In Uri warnte ein ehemaliger Landammann davor, dass «künftig die Protestanten auf den Strassen Altdorfs predigen dürfen». An der Nidwaldner Landsgemeinde wurde behauptet, «die Katholiken kämen unter die Herrschaft der Protestanten». In Zug prophezeiten Geistliche, «die Katholiken müssten ihren Glauben abschwören und Protestanten werden». Die konfessionalistische Abwehr gegen Andersgläubige, die es auch in protestantischen Gebieten gab, war ein wichtiger Grund dafür, dass den zahlreichen Neuzuzügern die politische Partizipation in den Gemeinden erschwert wurde. Die Ersetzung oder Ergänzung der Bürgergemeinden durch Einwohnergemeinden, die nach der ersten Totalrevision der Bundesverfassung erfolgte, stärkte die jeweiligen konfessionellen Minderheiten.
Martin Disteli, Zelotenpredigt, Entwurf zu einem Taschentuch, Solothurn, um 1834.
Die zwei wichtigsten Streitpunkte im Ringen um den Bundesstaat waren die Klöster und der Jesuitenorden. Aus liberaler Sicht verschärften sie die konfessionelle Spaltung des Landes. Die von einem liberalen Katholiken gezeichnete Karikatur führt einen Jesuiten vor, der den Gläubigen einheizt. Martin Disteli, Zelotenpredigt, Entwurf zu einem Taschentuch, Solothurn, um 1834. Musée d’art et d’histoire Genève
Ein grosses Problem blieb insbesondere in konservativen Gegenden die kirchliche Prägung der Primarschulen. Deshalb förderte der neue Schulartikel in der Bundesverfassung von 1874 auch die religiöse Freiheit und Toleranz. Er verpflichtete die Kantone, einen Unterricht anzubieten, der von allen «ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit» besucht werden kann. Andere Fortschritte wurden bereits früher durch Bundesgesetze erreicht. So hob die Bundesversammlung 1851 kantonale Regelungen auf, welche die Eheschliessung zwischen Brautleuten unterschiedlicher Konfession erschwerten. Die Bundesverfassung von 1874 setzte dann die Zivilehe und das Scheidungsrecht durch. Der Ausschluss der jüdischen Minderheit von all den erwähnten Rechten war eine der grössten Schwächen der Bundesverfassung von 1848. Im Aargau, in dem ein gutes Drittel der damals 4216 Jüdinnen und Juden lebte, wurde deren Gleichberechtigung 1862 wuchtig verworfen. Der Hauptsprecher des antisemitischen «Mannlisturms» war gleichzeitig Kopf des auf den Papst getauften Piusvereins. Die programmatischen Grundsätze des Kampfes gegen die jüdische Emanzipation lauteten: «Die Juden passen nicht zu uns als Mitbürger und Miteidgenossen. Die Schweiz ist geschichtlich ein Vaterland der Christen.»
Karikatur für das Schächtverbot im Nebelspalter vom 19.8.1893.
Knapp 20 Jahre nach der Anerkennung der jüdischen Religionsfreiheit im Rahmen der neuen Bundesverfassung 1874 wurde sie durch die Annahme der allerersten Volksinitiative 1893 wieder eingeschränkt. Die Karikatur zeigt, dass im antisemitisch geprägten Abstimmungskampf auch die Ritualmordlegende abgerufen wurde. Karikatur für das Schächtverbot im Nebelspalter vom 19.8.1893. Nebelspalter
Nachdem der Bund 1863 die politische Gleichberechtigung der Aargauer Juden verfügt hatte, war er gefordert, diese auch selbst zu verwirklichen. Im Januar 1866 gab es eine Abstimmung über die erste Teilrevision der Bundesverfassung. Während die Niederlassungsfreiheit und die Rechtsgleichheit der Juden eine Mehrheit fanden, wurde deren Glaubens- und Kultusfreiheit knapp abgelehnt. In der Zentralschweiz sagten um die 80 Prozent der Stimmbevölkerung Nein. Damit wurde die jüdische Religionsfreiheit zu einem Schlüsselthema in der folgenden Debatte um die Totalrevision. Ein Urner Ständerat bekämpfte sie mit einer höchst modernen Formulierung: «Soll die Schweiz ein christlicher oder aber ein kosmopolitischer Staat sein?» Am 19. April 1874 sprachen sich zwei Drittel des Männervolks bei einer Stimmbeteiligung von 82 Prozent für einen säkularen Bundesstaat aus.
Augustin Keller
Der katholische Freisinnige Augustin Keller war zwischen 1835 und 1875 eine Schlüsselfigur im Kampf für einen säkularen Bundesstaat. Er schlug 1841 die Aufhebung der Aargauer Klöster und 1844 die Aufhebung des Jesuitenordens vor. In den 1860er-Jahren machte er sich für die Gleichberechtigung der Juden stark, weshalb die 1907 in Zürich gegründete jüdische Loge seinen Namen trägt. Schweizerisches Nationalmuseum
Im Rahmen des Kulturkampfes um eine Entkoppelung von religiöser und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit wurde das bereits 1848 beschlossene Verbot des Jesuitenordens verschärft. Auch den einzelnen Mitgliedern wurde die Tätigkeit untersagt. Weiter wurde die Gründung neuer Klöster verboten und Geistlichen die Wählbarkeit in den National- und Bundesrat verweigert; die Errichtung von Bistümern musste vom Bund bewilligt werden. Diese Ausnahmeartikel widersprachen einer liberalen Vorstellung von Religionsfreiheit, müssen aber als Reaktion auf den antiliberalen Kreuzzug des Papstes verstanden werden. Dieser gipfelte 1870 in der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit durch das Erste Vatikanische Konzil. Noch 1960 hielt die päpstliche Glaubenskongregation fest: «Wo die Kirche selbst herrscht, will sie die Rechte der Andersgläubigen einschränken, wo sie aber eine Minderheit bildet, verlangt sie die gleichen Rechte wie die anderen.» Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil 1965 erleichterte die politische Aufhebung des Jesuiten- und Klosterverbots 1973.
Eröffnungssitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom im Oktober 1962.
Eröffnungssitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom im Oktober 1962. Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil im Jahr 1965 ebnete den Weg zur Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel in der Schweiz 1973, 1999 und 2001. Das Zweite Vatikanum (1962–1965) kam den Kritikern des Ersten Vatikanums (1869/70) in etlichen Punkten entgegen. Bernhard Moosbrugger/Fotostiftung Schweiz
Die religiöse Toleranz gegenüber Angehörigen des Judentums erlitt 1893 bereits wieder einen Rückschlag durch das von konservativen Protestanten angeregte Schächtverbot. Besonders verhängnisvoll wirkte sich der Antisemitismus während des Zweiten Weltkriegs aus. Vielen aus «rassischen Gründen» Verfolgten wurde kein Asyl gewährt. 1978 wurde das Schächtverbot, das auch muslimische Menschen betrifft, aus der Verfassung gestrichen, jedoch im Tierschutzgesetz festgeschrieben. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Gesellschaft stark säkularisiert und religiös pluralisiert. Auf die neue Bundesverfassung von 1999 hatte das keinen Einfluss. Die einzige religionspolitische Änderung war, dass nun Geistliche für einen Parlamentssitz wählbar wurden. Die Aufhebung des Bistumsartikels wurde 2001 nachgeholt – mit einem Ja-Anteil von 64 Prozent. Ein Drittel der gegenüber der Hierarchie misstrauischer gewordenen Katholiken und vor allem Katholikinnen hatte mit Nein gestimmt. Kaum war die Bundesverfassung von religiösen Ausnahmeartikeln befreit, wurde sie mit zwei neuen belastet: 2009 stimmten 58 Prozent für ein Minarettverbot und 2021 51 Prozent für ein Burkaverbot. Viele Schweizerinnen und Schweizer fremdeln weiterhin gegenüber religiöser Freiheit und Toleranz.

Die Glaubens- und Gewissens­frei­heit ist unverletzlich.

Bundesverfassung von 1874, Artikel 49

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