Schächtmesser 18. Jahrhundert, wahrscheinlich aus Deutschland.
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Schächt­ver­bot

Nachdem die Schweizer Juden 1874 endlich die Kultusfreiheit erhielten, wurde dies bereits einige Jahre später wieder eingeschränkt. Mit dem 1891 eingeführten Initiativrecht erwirkten Tierschützer ein Schächtverbot.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Es war ein fiebriger Sonntag im August. Bei der jüdischen Bevölkerung von Lengnau und Endingen war die Spannung mit Händen zu greifen. 250 Jahre lang waren die Dörfer im aargauischen Surbtal die einzigen Orte gewesen, an denen sich Juden in der Schweiz niederlassen durften. Und auch hier war es wiederholt zu Übergriffen und sogar Pogromen gekommen. Auch jetzt war die Stimmung angeheizt. Alles wartete auf das Ergebnis der Abstimmung. Und die Surbtaler Juden ahnten bereits, was auf sie zukam.

Die Schweizer Juden waren jahrhundertelang Bürger zweiter Klasse. Als die Schweizer Männer 1798 Stimm- und Wahlrechte erhielten, wurden sie ausgeklammert, als wären sie Fremde. Auch die Verfassung von 1848 gewährte Niederlassungs-, Glaubens- und Rechtsfreiheit nur Schweizern christlicher Konfession. Erst auf Druck aus dem Ausland, und auch dann noch begleitet von antisemitischen Tönen und in einem Prozess, bei dem auf jeden Fort- wieder ein Rückschritt folgte, erhielten die Schweizer Juden 1866 endlich die Niederlassungs- und 1874 die Kultusfreiheit. Endlich hatten sie das Recht, ihren Glauben überall auszuüben. Theoretisch zumindest.

Um Rechte ging es auch bei den Debatten ums 1891 eingeführte Initiativrecht. Viele hatten davor gewarnt: es könnten unangenehme Themen auf den Tisch kommen. Und Alfred Escher hatte erklärt: «Wer von der Unfehlbarkeit des Volkes ausgeht, ist nicht besser als die Katholiken, welche an die Unfehlbarkeit des Papstes glauben.» Acht Prozent der Stimmberechtigten mussten ein Anliegen unterstützen, damit es zur Abstimmung kam. Und die Ersten, die diese Hürde schafften, waren ausgerechnet die Tierschützer.

Tonfigur eines Juden, 19. Jahrhundert.
Schweizerisches Nationalmuseum

Dabei war der Tierschutz ein recht junges Phänomen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde wirklich über das Wohl der Tiere diskutiert. Und viele Tierschützer sahen im Schächten ein Problem. Mit ihrer Initiative wollten sie deshalb das Aufschneiden des Halses nach jüdischem Ritus verbieten. Es folgten hitzige Debatten. Gutachten und Gegengutachten. Und die zwar richtigen, aber auch zynischen Debatten ums moralisch korrekte Töten.

Worüber stimmte die Schweiz am 20. August 1893 wirklich ab? Über das Tierwohl? Über Glaubensfreiheit? Über die Juden? Debatten und Resultate zeigen: das Tierwohl war mässig relevant. Im Aargau, wo die Stimmung besonders aufgepeitscht war, gingen 84 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne – und stimmten dem Schächtverbot zu 90 Prozent zu. Im Wallis hingegen lehnten 97 von 100 Stimmenden die Vorlage ab. Schweizweit siegten die Initianten mit 60 Prozent Zustimmung – und wären doch um ein Haar am Ständemehr gescheitert. 63 Nidwaldner hätten das Schächtverbot verhindern können.

Ausser Umständen hat das Verbot wenig gebracht: die Juden mussten ihr Fleisch nun eben importieren und die Schweiz kam international wegen Diskriminierung in die Kritik. Der Verfassungsartikel besteht heute nicht mehr – das Schächtverbot ist jetzt Teil des Tierschutzgesetzes. Und die Frage, ob die Schlachtmethode human oder barbarisch sei, bleibt – paradoxer- und passenderweise – eine Glaubensfrage.

Schächten im 18. Jahrhundert in Deutschland.
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