Programm des Zürcher Schauspielhauses für die Spielzeit 1934/35. 
Programm des Zürcher Schauspielhauses für die Spielzeit 1934/35. Stadtarchiv Zürich

Das Theater der Emigranten

Schon wenige Monate nach der «Machtergreifung» Adolf Hitlers entwickelte sich das Zürcher Schauspielhaus zu einer mutigen Bühne gegen Rassenwahn und Antisemitismus.

Gabriel Heim

Gabriel Heim

Gabriel Heim ist Buch- und Filmautor sowie Ausstellungsmacher. Er befasst sich vor allem mit Recherchen zu Themen der Neueren Zeitgeschichte und lebt in Basel.

Im Juli 1934 reist der Dramaturg Felix Gasbarra nach Vulpera im Unterengadin um sich dort mit dem Direktor und Inhaber des Zürcher Schauspielhauses, Ferdinand Rieser, zu Vertragsgesprächen zu treffen. Rieser ist auf der Suche nach einem erfahrenen Dramaturgen zur Komplettierung seines Bühnenpersonals. Mit Gasbarra, den er von der Berliner Piscator-Bühne her kennt, glaubt er den Richtigen gefunden zu haben, denn sein Haus, der Spielplan und die künstlerische Qualität der Aufführungen haben sich in den vergangenen zwölf Monaten grundlegend gewandelt. Seine prominenten Neuzugänge, die er wie «Weizen bei schlechter Wetterlage» zusammengekauft haben soll, verdankt er den «Säuberungen» von Joseph Goebbels an den Theatern des Reichs. Gasbarra, der mit Rieser handelseinig wird, reist weiter nach Zürich, wo ihm viele seiner alten Berliner Weggefährten wieder begegnen, die «wie eine Hammelherde auseinander gestoben waren, in die der Wolf eingebrochen war.» Illustre Namen wie Kurt Horwitz, Ernst Ginsberg, Wolfgang Langhoff, Therese Giehse oder der Bühnenbildner Teo Otto hatten das Zürcher Schauspielhaus in nur wenigen Monaten aus dem Schattendasein der Provinz in die erste Reihe der deutschsprachigen Sprechbühnen katapultiert. Vor allem mit dem hochtalentierten Leopold Lindtberg (ursprünglich Leopold Lemberger) verfügt das Haus nun über einen Regisseur, der mit seinen Inszenierungen in Riesers bisher gefälligem, doch weitgehend apolitischen Theaterbetrieb für Furore sorgen wird.
Leopold Lindtberg war auch Filmregisseur. Beispielsweise beim «Landammann Stauffacher», 1941.
Leopold Lindtberg war auch Filmregisseur. Beispielsweise beim «Landammann Stauffacher», 1941. Schweizerisches Nationalmuseum
Therese Giehse vor der Chesa Salis in Segl, 1936. Aufgenommen wurde sie von Annemarie Schwarzenbach.
Therese Giehse vor der Chesa Salis in Segl, 1936. Aufgenommen wurde sie von Annemarie Schwarzenbach. Wikimedia / Schweizerische Nationalbibliothek
Schon ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung entschliesst sich Rieser dazu, das Stück Die Rassen des jüdischen Autors Ferdinand Bruckner zu zeigen, welches den Judenboykott von 1933 zum Inhalt hat. Der Premierengast Thomas Mann notiert dazu in seinem Tagebuch: Sehr günstige Aufnahme. Große Demonstration des Publikums bei dem Worte: «Im Augenblick ist es nicht deutsch, die Wahrheit zu sagen.» Der Spielplan 1934/35 mit Klassikern, darunter auch der obligate Wilhelm Tell, das Erfolgsstück Katharina Knie von Carl Zuckmayer, leichten Komödien und bürgerlichen Dramen ist mit über 20 Premieren pro Spielzeit weitgefächert. In diesem Reigen lässt ein Stück aufhorchen, Professor Mamlock - in Zürich als Professor Mannheim aufgeführt,  ist ein zeitkritisches Stück des Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf. Die Hauptfigur, der jüdische Arzt Professor Hans Mamlock zerbricht als überzeugter Demokrat an den zunehmenden Repressalien gegen die Juden und begeht in seiner Verzweiflung Selbstmord. «Ein Schauspiel aus dem Deutschland von heute» nennt es der Autor.
Das Zürcher Schauspielhaus wurde in den 1930er-Jahren zum sehr erfolgreichen «Theater der Emigranten».
Das Zürcher Schauspielhaus wurde in den 1930er-Jahren zum sehr erfolgreichen «Theater der Emigranten». Baugeschichtliches Archiv
Die Premiere findet  am 8. November 1934 vor ausverkauftem Haus statt. Felix Gasbarra zeichnet für die Dramaturgie, Leopold Lindtberg für die Regie und auf der Bühne begeistert Kurt Horwitz in der Rolle des Doktor Mamlock. Es ist ein denkwürdiger Theaterabend. Das Publikum ergreift Partei für den Geschmähten. Ferdinand Riesers Courage den Warnungen deutschfreundlicher Freunde zu widerstehen, hatte dem Schauspielhaus ein Theaterereignis beschert, das zum Widerstand gegen Rassenwahn und Antisemitismus aufrief. Die um ein gutes Auskommen mit Deutschland bemühte Neue Zürcher Zeitung schreibt nach der Premiere: «War es notwendig, solche grausamen Ereignisse wieder hervorzuzerren? […] Wolfs Stück bringt denen, für die es geschrieben wurde – den Juden in Deutschland – keinen Nutzen und Trost, es kann ihnen höchstens schaden. Uns aber bringt es auch keine neue Aufklärung, sondern schürt nur die politischen Leidenschaften. Das zeigte sich deutlich bei der Premiere, wo alle vehementen Ausfälle gegen die Vertreter des neuen deutschen Regimes ein demonstratives lautes Echo fanden» und kommt zum Schluss, dass bei der Darstellung des «spezifisch deutschen Konfliktstoffs der Judenfrage» eine «leidenschaftliche Aufforderung zur Parteinahme» nicht angebracht sei.
Artikel aus der NZZ vom 10. November 1934.
Artikel aus der NZZ vom 10. November 1934. e-newspaperarchives
Übertönt wird der mehrheitlich demonstrative Beifall der Theaterbesucher in den darauffolgenden Tagen von der in Zürich aggressiv auftretenden Fronten-Bewegung und der Schweizer Landesgruppe der NSDAP. In einer Grosskundgebung am 21. November 1934 im Kursaal wird die Säuberung der Schweiz vom ganzen «Geschmeiss ausländischer Emigranten» gefordert. Die Attacke richtete sich gezielt gegen die Aufführung des Professor Mannheim und gegen die Leitung des Schauspielhauses. In der Tat mobilisieren die Schweizer Frontisten nach dem Muster der SA-Krawalle ihrer Mitläufer, um die Vorstellungen zu stören oder gar zu verhindern. Am 27. November 1934 berichtet die Basler Nationalzeitung: «Die kunstliebenden Zürcher, die am Montag die Volksvorstellung Professor Mannheim besuchten, waren schon beim Betreten des Theaters um ein seltenes Schauspiel reicher. Die Längsseite des Hauses flankierten Polizisten in Stahlhelm und mit Karabinern. Vor dem Theater parkierten die Mannschaftswagen der Polizei, bald auch der geräumige Gefangenenwagen. Die Demonstranten nahmen das Einschreiten der Polizei jeweils mit Pfuirufen und Schimpfworten auf. Während der Strassenschlacht [!]  gab es 108 Verhaftungen, unter ihnen Dr. Henne, der Landesführer der Nationalen Front.»
Rolf Henne, zwischen 1934 und 1938 Parteiführer der Nationalen Front.
Rolf Henne, zwischen 1934 und 1938 Parteiführer der Nationalen Front. Keystone / STR
Doch das sozialdemokratisch regierte Zürich lässt sich durch die vehementen Proteste von rechts nicht einschüchtern. Auch dann nicht, als das Schauspielhaus auf Grund einer diplomatischen Intervention des Deutschen Botschafters Ernst von Weizsäcker: «unter der Leitung des Juden Rieser ist es ein Herd kommunistischer Umtriebe und der Hetze gegen Deutschland», von der Schweizerischen Bundesanwaltschaft unter Beobachtung gestellt wird. Die Aufführung Professor Mannheim wird zur Geburtsstunde der bald schon legendären Zürcher Emigrantenbühne, die in den Jahren 1941 bis 1943 auch drei Uraufführungen von Bertold Brecht zeigen wird. Trotz alledem hatten die Theaterexilanten einen schweren Stand. So erinnert Felix Gasbarra, «die Fremdenpolizei stand allen Emigranten sehr misstrauisch, um nicht zu sagen ablehnend gegenüber, und versuchte die Einwanderung nach Möglichkeit zu verhindern». Und der Feuilletonchef der NZZ, Eduard Korrodi, liess nicht nach «das taktlose Hervortreten politischer Emigranten in unserem Land» zu brandmarken.
Professor Mannheim, Szenenfoto mit Wolfgang Langhoff, November 1934.
Professor Mannheim, Szenenfoto mit Wolfgang Langhoff, November 1934. Stadtarchiv Zürich, VII.200.:1.5
Programmflyer Schauspielhaus Zürich für die Spielzeit 1934/35.
Programmflyer der Spielzeit 1934/35. Stadtarchiv Zürich
Auch der schon früh an Theaterfragen interessierte Max Frisch äussert sich in einem Brief aus dem Sommer 1934 nachdenklich zum Zürcher Emigrantentheater: «… das Unglückliche daran ist, dass hier in jener leichtfertigen Deutschfeindlichkeit gemacht wird, bloss weil es rentabel ist. Wir sind Schweizer und müssen es leidenschaftlicher denn je sein. Wir haben weder für noch gegen Deutschland zu sein.» 28 Jahre später wird sein Welterfolg Andorra auf eben dieser Bühne die Uraufführung erleben – unter der Regie des einstigen deutsch-jüdischen Emigranten Kurt Hirschfeld.

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