Lisa Tetzner und Kurt Kläber bewahrten unzählige Zuschriften von jungen Leserinnen und Lesern auf.
Lisa Tetzner und Kurt Kläber bewahrten unzählige Zuschriften von jungen Leserinnen und Lesern auf. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

«So ein schönes Buch habe ich noch nie gelesen!»

Im Nachlass von Lisa Tetzner und Kurt Kläber befinden sich Briefe ihrer jugendlichen Leserschaft. Die Fanpost zeigt, wie die Bücher das Publikum bewegt haben.

Maria Becker

Maria Becker

Dr. Maria Becker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM.

«Potz tausend…», heisst es in einem Leserbrief an Lisa Tetzner. Die Schwarzen Brüder, «das ist ein Buch, so ein schönes habe ich noch nie gelesen. Dass das eine Dichterin nur kann!» Datiert ist die Post auf 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg. Vor mehr als 80 Jahren schrieben das Autorenpaar Lisa Tetzner und Kurt Kläber (unter dessen Pseudonym Kurt Held) Klassiker der Jugendliteratur, mit denen sie die Schweizer Leselandschaft prägten: Das gilt vor allem für ihren historischen Roman Die Schwarzen Brüder (1940/41), in dem sie das Schicksal der Tessiner Kaminfegerkinder aufgreifen. Kurt Kläbers Die rote Zora und ihre Bande (1941) entwickelte sich schliesslich zum Welterfolg. Übersetzt in 18 Sprachen folgten zahlreiche Film-, Fernseh-, Hörspiel- und Theaterproduktionen, von denen vor allem die deutsch-schweizerisch-kroatische Fernsehserie von 1979 im Gedächtnis bleibt. Lisa Tetzner hatte sich noch vor ihrer Emigration in die Schweiz 1933 in Deutschland als Märchenerzählerin etabliert. Ihr erfolgreichstes Werk schuf sie mit ihrem neunbändigen Romanzyklus Die Kinder aus der Nr. 67 (1933–1949), der die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf das Leben von jungen Menschen beschreibt.
Lisa Tetzner mit einem jungen Leser.
Lisa Tetzner mit einem jungen Leser. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Der Nachlass von Lisa Tetzner und Kurt Kläber am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM birgt eine ganz besondere Rarität: die von den Autoren gesammelte Fanpost. In drei Mappen sind einzelne Zuschriften, Kinderzeichnungen sowie Briefe von deutschen und Schweizer Schulklassen aus den Jahren 1942 bis 1961 enthalten. Im Zentrum der Briefe stehen zwei Bücher: Die Schwarzen Brüder und Die Kinder aus Nr. 67. In ihrem Roman Die Schwarzen Brüder befassen sich Lisa Tetzner und Kurt Kläber – aus politischen Gründen konnte der Roman nur unter Lisa Tetzners Namen erscheinen – mit der historischen Aufarbeitung der Spazzacamini: der Versklavung von Verdingbuben während des 19. und 20. Jahrhunderts, die von ihren durch Armut gebeutelten Familien nach Norditalien geschickt wurden, um als Kaminfeger zu arbeiten. Die Geschichte ist charakteristisch für die sozialkritischen Ambitionen des Schriftstellerpaars, die allerdings nicht unbedingt den Vorstellungen der pädagogischen Jugendschriftenkommissionen ihrer Zeit entsprachen. «Man muss unseren Kindern nur sympathische, gute, soziale Menschen zeigen», kritisierte einst Kläber die Meinung seines Lektors, dem das Manuskript missfiel. Kläber wollte seine Leserinnen und Leser aber nicht vor den Missständen der realen Welt bewahren, sondern sie auf den Punkt bringen und eine bessere Welt schaffen: «Nein, ich konnte es nicht und brach den Verkehr mit diesem Narren ab.» Eine folgenreiche Entscheidung. Ein neuer Verlag wurde gefunden und das Interesse der Kinder geweckt: «Ich kann es immer nicht erfassen», schreibt 1942 ein Leser, «dass es so Leute gibt, die so schöne Bücher schreiben können. Dies Buch ist das schönste, das ich bis jetzt gehört habe».
Neben 50 Einzelbriefen und selbst gemalten Bildern erhielt vor allem Lisa Tetzner Post von Schulklassen, die aus der Schweiz und Deutschland kamen.
Neben 50 Einzelbriefen und selbst gemalten Bildern erhielt vor allem Lisa Tetzner Post von Schulklassen, die aus der Schweiz und Deutschland kamen. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Beliebt in Schulklassen waren auch Lisa Tetzners neun Bände Die Kinder aus Nr. 67, die sie zwischen 1933 und 1949 verfasst hatte. Mit etwa 1600 Seiten gilt die Reihe heute als eines der umfassendsten und bedeutendsten Werke der Exilliteratur. In den gesammelten Zuschriften fällt ein Briefbündel besonders auf: Zwei Monate nach Ende des zweiten Weltkriegs 1945 nahmen 25 Teilnehmerinnen eines Kindergärtnerinnen-Seminars der Gemeinde Ebnat-Kappel (SG) Stellung zur Titelfrage des siebten Bandes Ist Paul schuldig? (1945). Sind die einstigen Überzeugungen und Verstrickungen der Figur Paul Richter in das nationalsozialistische System vertretbar und verstehbar? Reichen Reue und Schuldgefühle aus? «Nein, Paul ist nicht schuldig!», schrieb die 19-jährige E. Schmidt: «Er hat ja nur so gehandelt, wie man ihm befohlen hat. Er, wie die ganze deutsche Jugend sind eben in diesem Sinne erzogen worden. […] Unsere Schweizerbuben hätten sicher auch Verrat begangen, wenn ihnen die Reit- und Fahrschule als Belohnung in Aussicht gestellt worden wäre. Aber wir leben ja in so geordneten Verhältnissen, dass wir uns dies gar nicht recht vorstellen können.»
«Ich muss Ihnen gratulieren, ja sogar danken, dass Sie dieses Buch mit Ihrem Gatten geschrieben haben», schreibt eine junge Leserin oder ein junger Leser aus Basel an Lisa Tetzner.
«Ich muss Ihnen gratulieren, ja sogar danken, dass Sie dieses Buch mit Ihrem Gatten geschrieben haben», schreibt eine junge Leserin oder ein junger Leser aus Basel an Lisa Tetzner. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Auch aus Frankreich traf Fanpost ein, wie dieses Beispiel zeigt.
Auch aus Frankreich traf Fanpost ein, wie dieses Beispiel zeigt. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Dieser Standpunkt lässt erahnen, dass die Romane von Lisa Tetzner und Kurt Kläber auch im 21. Jahrhundert noch aktuell und spannend zu diskutieren sind. Fast 80 Jahre nach Ende des Krieges sind Die Kinder aus Nr. 67 weiterhin im Buchhandel erhältlich. Unvergesslich ist ausserdem die 2002 erschienene Graphic Novel Die Schwarzen Brüder des für seine Schabkartontechnik bekannten Illustrators Hannes Binder (Neuausgabe 2019). Die Schwarzen Brüder wurden als Musical aufgeführt, in Deutschland und Japan als Serie produziert (Regie: Diethard Klante, 1984 / Regie: Kōzō Kusuba, 1995), als Hörspiel aufgenommen (2002, Neuausgabe 2014 und 2021) und 2013 neu verfilmt (Regie: Xavier Koller). «Ich habe das Buch beinahe aufgegessen», hiesst es einst in einem Brief. Inzwischen sind Lisa Tetzner (1894–1963) und Kurt Kläber (1897–1959) seit über 60 Jahren verstorben. Schade, dass sie keine Fanpost mehr erhalten können...
Kinderzeichnung einer Berglandschaft.
Kinderzeichnung einer Berglandschaft. Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
Der Nachlass des Schriftstellerpaars befindet sich heute an verschiedenen Orten. Ein grosser Teil ging 2006 in das Archiv des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM über. Auf fünf Laufmetern werden dort Korrespondenzen mit ihrem Verlag H. R. Sauerländer & Co Aarau (1935–1959) ein umfangreicher Schriftverkehr zu Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen in der Schweiz (1925–1946) und eine grosse Anzahl privater Briefe von und an Personen und Institutionen in der Schweiz und im Ausland aufbewahrt. Die Sammlung wird durch mehr als 100 Bücher ergänzt, die zum Teil Korrekturexemplare und Widmungen enthalten. Interessierte können den Nachlass in der Bibliothek des SIKJM in Zürich einsehen.

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