Eine Kopie des Spielfilms «Die letzte Chance» wird 1945 von Zürich in die USA transportiert, wo er der Schweizer Firma Praesens-Film internationalen Ruhm beschert.
Eine Kopie des Spielfilms «Die letzte Chance» wird 1945 von Zürich in die USA transportiert, wo er der Schweizer Firma Praesens-Film internationalen Ruhm beschert. © Cinémathèque suisse

Zwischen Avantgar­de und Hollywood

Die 1924 in Zürich gegründete Praesens-Film ist die älteste noch bestehende Filmgesellschaft der Schweiz. Ab dem der Ende der 1920er-Jahre produziert sie Filme, die ein Stück Schweizer Kulturgeschichte erzählen und ein Spiegel der jeweiligen Zeit, Politik und Gesellschaft sind.

Denise Tonella

Denise Tonella

Denise Tonella ist Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums.

Als der junge Lazar Wechsler, aus Russisch-Polen stammend, mit seiner Mutter und einem Bruder auf Durchreise in der Schweiz ist und der Erste Weltkrieg ausbricht, weiss er noch nicht, dass er in den folgenden Jahrzehnten zur zentralen Figur des Schweizer Kinos avancieren wird. Vorerst aber entscheidet sich die jüdische Familie, in Zürich zu bleiben, und Lazar Wechsler studiert an der ETH Ingenieurwesen. 1924 gründet er zusammen mit dem Medienunternehmer, Flugpionier und späteren Swissair-Mitbegründer Walter Mittelholzer die Firma Praesens-Film. Mit dabei ist auch Lazars Frau Amalie Wechsler, die als unerlässliche Partnerin in den verschiedensten Rollen mitarbeitet. Alle drei sind ständig auf Achse und bereisen die Welt. Ihre Expeditionsfilme führen sie in den 1920er- und 1930er-Jahren bis nach Äthiopien, Iran oder China.
Lazar Wechsler als Student, Zürich vor 1919.
Lazar Wechsler als Student, Zürich vor 1919. © Cinémathèque suisse

Von Avantgar­de-Filmen und Tabuthemen

Kontroverse gesellschaftliche Themen wie Alkoholismus oder Schwangerschaftsabbruch beschäftigen die Praesens-Film über ihre teils im Auftragsverhältnis entstandenen Dokumentarfilme. Aus dem Jahr 1929 stammt der Stummfilm «Frauennot – Frauenglück». Der Aufklärungsfilm über die Schwangerschaft und ihren Abbruch wurde mit der Unterstützung der Zürcher Gesundheitsdirektion und der Universitäts-Frauenklinik realisiert. Den erschütternden Bildern des Leidens und des Sterbens von Frauen, die heimlich eine illegale Abtreibung vornehmen lassen, stellt die sowjetische Filmequipe rund um Eduard Tissé die professionellen Behandlungsmöglichkeiten der modernen und hygienischen Frauenklinik gegenüber. Der Film ist mutig, erhitzt die Gemüter, erhält kantonale Verbote – und wird ein Erfolg. Ein ganz anderes Thema behandelt «Die Schatten werden länger» (1961), ein Filmdrama des ungarischen Regisseurs Ladislao Vajda, das in einem Mädchenheim in der Schweiz spielt und die Prostitution und Erpressung junger Frauen zum Inhalt hat – dies in einer Zeit, als Prostitution in der Öffentlichkeit noch ein Schattendasein fristete.
Moderner Trailer für den Film «Frauennot – Frauenglück» von 1929. YouTube / filmo

Hollywood-Flair

Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland 1933 gelangt der aus Wien stammende jüdische Regisseur Leopold Lindtberg nach Zürich. Er wird zu den wichtigsten Regisseuren des Schauspielhauses Zürich und des Schweizer Films. Lazar Wechsler engagiert ihn erstmals 1935. Lindtberg führt Regie bei den zentralen Filmen der Geistigen Landesverteidigung. «Füsilier Wipf» (1938), «Landammann Stauffacher» (1941) oder «Marie-Louise» (1944) stehen zum einen für die Wehrbereitschaft, zum anderen für die humanitäre Tradition der Schweiz. «Marie-Louise» bringt den Schweizer Film sogar bis nach Hollywood. Der Film erhält 1946 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences für das Drehbuch von Richard Schweizer den Oscar. Es ist der erste nicht englischsprachige Film, der diese Auszeichnung erhält.
Regisseur Leopold Lindtberg (rechts) und Heinrich Gretler als Werner Stauffacher bei den Dreharbeiten zum Film «Landammann Stauffacher» (1941) im Filmdorf am Lauerzersee.
Regisseur Leopold Lindtberg (rechts) und Heinrich Gretler als Werner Stauffacher bei den Dreharbeiten zum Film «Landammann Stauffacher» (1941) im Filmdorf am Lauerzersee. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Aber zurück zu Leopold Lindtberg: Nach dem Krieg realisiert er «Swiss Tour» (1949). Die Wintersportromanze mit Hollywood-Star Cornel Wilde wird unter katastrophalen Bedingungen gedreht. Von Kritikern wird der Film teilweise als banal empfunden, ein Flop aber ist er nicht – allein in Zürich läuft der Streifen neun Wochen lang im Kino. In «The Village» (1953) blickt Lindtberg auf Waisenkinder des zweiten Weltkriegs, die in der Schweiz ein temporäres Zuhause finden. Der Film, gedreht in der Schweiz und in England, findet auf dem internationalen Markt eine weite Verbreitung und gewinnt den Bronzenen Bären der Berlinale. Die zwei kurz hintereinander erscheinenden Filme «Heidi» (1952) des italienischen Regisseurs Luigi Comencini und «Heidi und Peter» (1955) unter der Regie von Franz Schnyder bieten in der Nachkriegszeit die perfekte Flucht in eine idyllische Bergwelt und werden auch jenseits der Schweizer Grenze ein Grosserfolg.
In den USA gelaufenes Kinoplakat des Films «Heidi and Peter» von 1955.
In den USA gelaufenes Kinoplakat des Films «Heidi and Peter» von 1955. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Geschichte der Praesens-Film geht weiter, zu erzählen gäbe es noch viel mehr. Fest steht, dass die Praesens-Film zwischen den 1920er- und den 1960er-Jahren Filme produziert, die alle zusammen genommen ein Stück Schweizer Kulturgeschichte erzählen und ein Spiegel der jeweiligen Zeit, Politik und Gesellschaft sind. Der Blick eines russisch-polnischen Produzenten, österreichischer und italienischer Regisseure oder sowjetischer Filmequipen schaffen in den Kinosälen prägende Schweizer Bilder. Es sind die schönen und die Schattenseiten einer Welt zwischen Aufbruch, Krieg, Identitätsbildung und Hollywood-Fieber. Dieser, für den Blog leicht angepasste, Text ist ursprünglich im Programmheft der 59. Solothurner Filmtage erschienen: www.solothurnerfilmtage.ch

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