Ortspanorama Mollis von Ludwig Adam Kelterborn, 1856 (Ausschnitt).
Ortspanorama Mollis von Ludwig Adam Kelterborn, 1856 (Ausschnitt). Schweizerisches Nationalmuseum

Heimweh nach den Bergen

Vor 200 Jahren galt Heimweh als typisch schweizerische Krankheit. Ausgelöst wurde sie von sogenannten Kuhreihen, alten Hirtenliedern. Auch die Kinderbuchfigur Heidi war davon betroffen.

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner hat Anglistik und Politikwissenschaften studiert und arbeitet bei der Kommunikation des Schweizerischen Nationalmuseums.

Im Jahr 1688 beschrieb der Elsässer Arzt Johannes Hofer eine neue, heimtückische Krankheit. Die Symptome: Fieber, unregelmässiger Herzschlag, Schwäche, Magenschmerzen, Melancholie. In manchen Fällen soll die Krankheit sogar tödlich enden. Und besonders auffällig: Sie befällt ausschliesslich Schweizer, speziell Schweizer Söldner, die weit weg von daheim für fremde Mächte kämpfen. Hofer nannte das Leiden «Nostalgia» oder «Heimwehe». Für Hofer war die Ursache psychisch. Er vermutete sie im «übermässigen Denken an die Heimat», ausgelöst durch den Aufenthalt eines Menschen in ungewohnter Umgebung.

Kurz nach Hofers Entdeckung meinte der Zürcher Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) einen bedeutend weniger emotionalen Auslöser der Krankheit gefunden zu haben. Bei den an die Höhe gewohnten Bergbewohnern soll der tiefere Luftdruck zu einer Verdickung des Blutes führen, wenn sie sich in tiefer gelegenen Gebieten aufhalten. Das Schweizer Bergvolk soll demnach besonders anfällig für die Krankheit sein. Steigen sie von ihren Alpwiesen ins Unterland oder gar ins auf Meereshöhe liegende Ausland hinab, werden sie von Heimweh heimgesucht.

Porträt von Johann Jakob Scheuchzer. Druckgrafik, um 1750.
Porträt von Johann Jakob Scheuchzer. Druckgrafik, um 1750. Schweizerisches Nationalmuseum
Besonders in Momenten der Ruhe verstärkte sich das Heimweh der Schweizer Söldner. Druckgrafik von vier ruhenden Kriegern, 1778.
Besonders in Momenten der Ruhe verstärkte sich das Heimweh der Schweizer Söldner. Druckgrafik von vier ruhenden Kriegern, 1778. Schweizerisches Nationalmuseum
Schulwandbild: Anwerbung von Söldnern in der Stadt, undatiert.
Schulwandbild: Anwerbung von Söldnern in der Stadt, undatiert. Ad. Lehmanns kulturgeschichtliche Bilder / Schweizerisches Nationalmuseum

Der Kuhreihen – das Schweizer Heimwehlied

Für die Menschen des 21. Jahrhunderts ist das Heimweh keine Krankheit mehr, sondern eine Empfindung, den gleichen Gefühlsregungen zuzuordnen wie Liebeskummer oder Fernweh. Das Heimweh als ehemals typisch schweizerische Krankheit wäre heute wohl kein Begriff mehr, hätte nicht der Basler Mediziner Theodor Zwinger (1658-1724) in einer Abhandlung von 1710 behauptet, dass ein spezifischer Gesang bei Schweizer Söldnern die Krankheit auslöse und sie zur Fahnenflucht verführe. Der verhängnisvolle Gesang waren sogenannte «Kuhreihen» – alte, traditionelle Hirtenlieder.

Die Schweizer Söldner, oftmals arme Bauernsöhne, sangen das Lied fernab der Heimat um sich Mut zu machen. Dass diese Gefühle beim Einen oder Anderen Heimweh auslösten und ihn vielleicht sogar zur Fahnenflucht verleitete, scheint plausibel. Es hiess sogar, dass die Franzosen aus Angst vor reihenweise desertierenden Schweizern das Singen von Kuhreihen unter Androhung der Todesstrafe verboten hätten. Ob dies tatsächlich so war, ist umstritten. Doch auch der berühmteste Philosoph der Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), schrieb in seinem Dictionnaire de la musique davon. Die Söldner, «die es sangen, zerflossen in Tränen, desertierten, oder es brach ihnen das Herz, so sehr weckte das Lied in ihnen das brennende Verlangen, die Heimat wiederzusehen».

Der Frutt-Kuhreihen, auf dem Alphorn gespielt. YouTube
Der vor allem in der Romandie legendäre und verbreitete «ranz des vaches» (Kuhreihen). Dieser wird traditionell auch am «Fête des Vignerons» vorgetragen. Wie hier von Bernard Romanens 1977. RTS/YouTube

Auch Heidi hat Heimweh

Rousseau war es auch, der 1762 in seinem Hauptwerk Émile oder über die Erziehung den ideellen Grundstein für Johanna Spyris (1827-1901) Heidi legte. Rousseau war skeptisch gegenüber der grossstädtischen und höfischen Gesellschaft beziehungsweise dem zivilisatorischen Fortschritt. Die Erziehung seines Protagonisten Émile geschah fernab der Zivilisation. Die Natur wird als Lehrerin vorgezogen. Auch in Spyris rund 100 Jahre später niedergeschriebenem Roman repräsentiert das Waisenmädchen Heidi das unverbildete Naturkind, während in der Stadt Traurigkeit, Strenge und Steifheit herrschten.

Heidi gehört zu den erfolgreichsten Kindererzählungen der Schweiz und der Welt. Es ist ein zeitloser Roman, der in über 50 Sprachen übersetzt und in unzähligen Formen für Bühne, Film und Fernsehen bearbeitet wurde. Im Kern ist es die prototypische Heimwehgeschichte. Das Alpenkind, fröhlich und gesund in der Obhut des Alpöhis, erkrankt, als es in die naturferne Stadt geschickt wird. Dort zeigt es die typischen Symptome der Heimwehkrankheit: Sehnsucht, Traurigkeit, Halluzinationen und Schlafwandel. Der einzige Weg zur Heilung ist die unverzügliche Rückkehr in die Heimat. Dabei galten im medizinischen Diskurs Frauen und Kinder lange nicht anfällig für die Heimweh-Krankheit. Johanna Spyris Roman prägte das Bild des Heimwehs mit Heidi so stark, dass heute vor allem Kinder als anfällig für Heimweh gelten.

Titelbild von Johanna Spyris Roman «Heidi» in einer der unzähligen Auflagen.
Titelbild von Johanna Spyris Roman «Heidi» in einer der unzähligen Auflagen. Schweizerisches Nationalmuseum

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